Manchmal ... (More Than Sometimes) by Katjen (katjen20@yahoo.com) Erklärung: Nichts ist meins… Rate: PG 13 Kategorie: M&M, AU Übersetzung: Lina (lina61@gmx.net) Anmerkung d. Übersetzer: Ich bin Alli mein ganzes Leben lang verpflichtet... J -------------------------------------------------------------------------------- Manchmal während er arbeitet, sitze ich bloß in Unterwäsche gekleidet in seinem riesigen Ledersessel und stelle mir vor, wie wir uns direkt hier auf diesem großen Holztisch lieben, die Papiere zur Seite geschoben und auf den Boden geschmissen, alles, was einst sauber und pedantisch geordnet war, umgedreht und umgeworfen, so außer Kontrolle wie ich selbst nach seinen Worten bin. Er sagt, ich würde eine unwiderstehliche erotische Verwirrung in sein Leben bringen, und ich weiß noch immer nicht, ob er das gut findet. Wenn jemand uns zusammen sehen würde (was eigentlich unmöglich ist – aus Gründen, die ich jetzt nicht erklären möchte), würde er keinesfalls glauben, daß wir ein Paar sind. Er ist älter als ich, ungefähr 10 Jahre, er sieht sehr berufsmäßig aus – immer im Anzug mit Krawatte, seine Aktentasche gefüllt mit Studentenarbeiten, die immer rechtzeitig benotet werden und innerhalb einer Woche zurückgegeben werden können – damit "die Wilden sich nicht aufregen". Er wirkt immer ein wenig nervös, aber ich glaube nicht, daß das sein natürlicher Zustand ist, ich denke, es ist meinetwegen. Er befürchtet noch immer, daß ich ihn in Schwierigkeiten bringen werde, und das ist lächerlich. Ich bin nicht mehr seine Studentin, und ich bin 19. Ich wollte ihn mehr als das Diplom der Musikakademie. Ich gab sehr viel für ihn auf, und er fühlt sich deshalb unbehaglich, obwohl er nie versuchte, mich zu bremsen, nie kam er mit dem "Bleib in der Schule" – Gerede. Er versuchte nie, mit mir Schluß zu machen. Sein Leben änderte sich nicht – im Gegensatz zu meinem. Er unterrichtet noch immer, er trifft sich mit seinen Kollegen und mit seinen Studenten, er lebt sein Leben genauso weiter wie früher und verheimlicht den Teil davon, der meine Anwesenheit hinter den geschlossenen Türen seiner Wohnung betrifft. Aus offensichtlichen Gründen darf ich nicht auf Telefonanrufe antworten, und wenn ich rausgehe, nehme ich den Lastaufzug. Ich denke, er weiß, wie sehr es mich kränkt, und er versucht, es mir zu verschönern – mit einem leeren Notenblatt mit meinem Namen in eleganter Schrift obendrauf, mit neuen Gitarrenseiten, wenn meine alten reißen. Ich lasse ihn mir nicht eine neue Gitarre kaufen, obwohl er es seit Monaten erwähnt. Hin und wieder bittet er mich, für ihn zu singen, er sagt, daß er meine Stimme liebt und ihr ewig zuhören kann. Manchmal haben wir auch keinen Sex. Manchmal umarmt er mich einfach. Manchmal schreibt er mit dem Finger Sonette auf meinen Rücken und flüstert, daß sie alle für eine Frau wie mich geschrieben wurden. Ich selbst schreibe seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Wenn er zur Arbeit geht, bleibe ich im Bett, halte sein Kissen an mich gedrückt und stelle mir vor, daß er noch immer da ist. Ich wandere durch seine Wohnung, ich blättere in seinen Büchern – weil ich ihn kennen will, seine Gedanken kennen will, ich will, daß alles, was ihn inspiriert, auch mich anregt. Ich lese seine Kommentare an den Rändern der Studentenarbeiten, und wenn ich ihnen nicht zustimmen kann, schreibe ich meine eigenen auf. Weil er klüger ist als ich. Er denkt über Dinge nach, wie zum Beispiel über den Verlust der Arbeitsstelle, weil ich gedankenlos über den Kampus renne – mit einer Fahne hinter mir, die besagt, daß Professor Klein mein Liebhaber ist. Er denkt voraus, er denkt – Punkt. Er ist brilliant, ich schaffte dagegen kein Abitur. Ich wußte nicht einmal, was ich im Kollege suchte. Ich verbrachte hier 2 Jahre mit nutzlosem Unterricht, auf der Suche nach dem gewissen Etwas, das mich inspirieren, mein Leben wunderbar machen würde… und ich fand ihn. Viktorianische Literatur 101, Professor Parker Klein. Ich nahm diesen Kurs, weil er irgendwie interessant klang und nicht Freitags gehalten wurde – sehr wichtig. Ich betrat das Auditorium und dachte zuerst, er sei ein Assistent oder ähnliches… er sah viel zu jung aus für einen "Professor". Er war großartig. Ich verbrachte viel Zeit in seinem Büro. Ich gestehe, daß ich diejenige war, die die Initiative ergriff. Wir besprachen gerade meine Testarbeit, Seite an Seite an seinem Tisch, und sein Knie streifte zufällig das meine. Er murmelte "'tschuldigung", sah mich an, und ich küßte ihn. Ich habe es nicht geplant (nur zehn Millionen Mal darüber fantasiert), und er rückte nicht zurück. Er erwiderte meinen Kuß, er küßte mich so lange, bis sein Telefon zu klingeln anfing und uns zurück in die Realität brachte. Ich verließ sein Büro, kaum in der Lage zu glauben, daß es tatsächlich geschehen war, aber … ich fühlte mich gut dabei… zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich wirklich gut. Am nächsten Tag, als er unsere Arbeiten in der Klasse verteilte, fühlte ich mich dreckig. Er gab mir eine "Eins". Ich ging in sein Büro und zischte zornerfüllt, daß ich dies neulich gar nicht meinte, daß ich dies überhaupt nicht wollte. Er errötete. Errötete und entschuldigte sich. Ich schmiß das Papier auf seinen Tisch, wartete und schaute ihn an, während er die "Eins" durchstrich und eine "Zwei+" draufschrieb. Ich starrte ihn wütend an. "Diese Arbeit ist reiner Mist, und wir beide wissen das…" brüllte ich, und er lachte. Er benotete sie mit "Drei– ", und ich bedankte mich. "Darf ich Dich zum Abendessen einladen, Maria… " Ich war in Ekstase. Ich stellte mir ein phantastisches Restaurant vor, wie er in seinem dunkelblauen Anzug mir gegenüber am Tisch saß und einen Toast auf unsere Zukunft aussprach… Heute verstehe ich, wie unglaublich naiv das alles war. Wir durften nicht in der Offentlichkeit gesehen werden. Wir gingen in seine Wohnung, und ich blieb nicht bei ihm. Wir trafen uns nochmal, und ich blieb wieder nicht. Es dauerte drei Wochen bis er eingesehen hatte, daß ich die Situation richtig behandeln konnte, und daß ich ihn wirklich wollte. Und es war wunderbar. Ich verließ die Akademie einen Monat später und zog zu ihm. Ich begann in einem Café ums Eck zu arbeiten, und seitdem versuche ich Stu (der das Etablissement leitet) dazu zu überreden, Live-Musik-Abende zu organisieren. Aber er sträubt sich gegen jede Idee, die nicht von ihm stammt, also bin ich noch immer beim Überreden. Es ist trotzdem ein guter Job – die Bezahlung ist gut, und das Trinkgeld fließt reichlich – ein Wunder, denn die häufigsten Besucher sind die Kunststudenten höherer Semester… Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, daß ich bei Parker schnorrte. Also antwortete ich auf eine Anzeige an der Tafel beim Café-Eingang. Modell gesucht für Skulpturen-Kurs IV. Daß ich den Streifen mit der Telefonnummer abriß, hatte nichts mit meiner Eitelkeit zu tun. Ich brauchte Geld, und es war in der Nähe, außerdem kannte ich einige Studenten, und sie hatten mir bereits erzählt, daß sie die Modelle brauchten und ich es mir überlegen sollte. Ich lachte immer darauf, weil das meistens die männlichen Studenten sagten, und es ziemlich offensichtlich war, daß sie bloß einen Vorwand suchten, um mich nackt sehen zu können. Wie auch immer, auch Jamie, bei dem ich um seine Homosexualität wußte, meinte, ich sollte es versuchen. Also dachte ich, warum auch nicht… *~*~* Ich erzählte Parker nicht von meinem neuen "Job", ich dachte mir, er würde es mit Strippen gleichsetzen und als eine Art von Prostitution ansehen, eben weil ich dafür bezahlt werden würde. Wie auch immer, Professor Kendall, am anderen Ende der Leitung, wirkte seriös und auf keinen Fall pervers, außerdem beruhigte mich die Tatsache, daß der Kurs von einer Frau geleitet wurde. Sie fragte, ob mir klar sei, daß ich mich ausziehen müsse, und ich antwortete, das sei schon in Ordnung. Sie dachte vermutlich, daß ich eine Exhibitionistin sei und nach einer Gelegenheit lechzte, mir meine Kleider dreimal die Woche für drei Stunden vor Fremden runterzureißen. Ich bin sicher nicht schüchtern, aber auch nicht übermäßig selbssicher… Ich sah das Ganze so – es ist nur ein Körper, jeder hat einen, und es ist ja nicht so, daß diese Leute noch nie Brüste gesehen haben… Ich schwöre, ich bin keine Exhibitionistin… eigentlich bin ich etwas nervös… Wenn ich bedenke, daß mich bisher niemand außer meiner Mutter und Parker nackt gesehen hat… warum will ich das bloß ändern…? Weil ich etwas wildes machen will… etwas abenteuerliches… etwas aufregenderes, als mit meinem Ex-Professor zu schlafen… Andererseits sieht es mir gar nicht ähnlich… mit einem Mann, der so viel älter ist als ich… Mein Freund Alex meint, ich habe einen "Vater-Komplex", weil ich meinen Vater nie gekannt habe, aber Alex studiert Psychologie und denkt daher grundsätzlich, daß jeder einen "Vater Komplex" hat. Und wenn dem so ist, wer zum Teufel ist die Frau, zu der ich werde? Ich bin unschlüssig darüber, ob ich sie mag, aber letztendlich hält sie mich am Leben. *~*~* Tatsächlich war ich noch nie in dem Kunstgebäude, aber es gefiel mir sofort. Jede Menge Fenster, der Geruch von Farbe und Terpentin, von Ton und Gipsstaub… es roch nach… Kreativität. Das klingt vielleicht blöd, aber es war dieser Geruch… Das Sonnenlicht durchströmte die Räume, und die Kleider der Leute waren mit Flecken jeder erdenklichen Farbe bedeckt… Die Regenbogenmenschen eilten umher, mit Pinseln in ihren Jackentaschen und abgenutzten Zeichenmappen in ihren Händen ... es war wunderbar… In der Musikschule war alles immer so seriös… so zurückhaltend… und alle um einen herum waren entweder Opernsänger oder klassische Musiker… alles war so bedrückend… aber hier war alles anders – hier konnte ich frei atmen – bis ich das Zimmer gefunden hatte, in dem ich mich aufhalten sollte. Mein Herz begann so hart zu klopfen, daß ich sein Schlagen in den Ohren hörte. Ich schritt von der Tür zurück, lehnte mich an die Wand und versuchte mich zu beruhigen, damit ich nicht wie ein totaler Idiot aussehen würde. Ich sah wie die Studenten das Zimmer füllten, trank aus dem Wasserspender, studierte das schwarze Brett und taxierte jeden Ankommenden mit dem Gedanken, daß dieser Kerl mich nackt sehen würde, und dieser, dieser auch, und die- Der Junge, der gerade den Flur entlang ging, sah irgendwie vertraut aus. Sein Kopf war geneigt, aber er hatte etwas… Er spürte meinen starrenden Blick und sah auf. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber Parkers Wohnung, liegt ein Wohnblock, und von Parkers Wohnzimmerfenster aus kann man über den dazwischenliegenden Hof in die Fenster der Mietwohnungen sehen. Gelegentlich, wenn ich nicht einschlafen kann, gehe ich ins Wohnzimmer, plumpse aufs Sofa, starre durchs Fenster und schaue mir das Leben anderer Menschen an. Meistens sind die Vorhänge vorgezogen, aber nicht seine. Ich denke nicht, daß er welche hat. Sein Appartement ist riesig… vermutlich eine Dachbodenwohnung… vier Frontfenster lang, nicht zuviele Möbel, soweit ich das erkennen konnte, aber Unmengen an Leinwänden und Maluntensilien, ein ungemachtes Futonbett in der oberen linken Ecke des letzten Fensters… Ich begann ihn zu beobachten, weil er der Einzige war, der in den gleichen unwirtlichen Stunden wie ich wach war. Ich sah ihn beim Malen und Zeichnen, wie er ein Lied aus dem Radio mitsang, ich sah wie er frustriert Farbe gegen die Wand schleuderte, ich sah wie er Leinwände zerriß, und wie Holzständer durch den Raum flogen. Ich sah ihn beim Kochen und Essen – allein. Er hatte selten Freunde bei sich. Aber jede Menge Mädchen. Sie kamen, und ich sah zu (und fühlte mich wie ein Perversling) bis die Lichter ausgingen, danach glitt ich ins Bett, lag lange neben dem friedlich schnarchenden Parker und dachte, was sie wohl jetzt gerade machten… Ich habe oft solche Gedanken. Ich kann in der Küche sitzen, Kaffe trinken und dabei darüber nachdenken, daß irgendwo in der weiten Welt jemand gerade jetzt Sex hat (wahrscheinlich der mysteriöse Typ von gegenüber) oder irgendwo auf der Welt jemand eine Melodie schreibt, die das Leben von jemand anderem umkrempeln wird, gerade jetzt "ich liebe dich" zum ersten Mal in seinem Leben sagt, jemand den Sonnenuntergang beobachtet, oder ein Gedicht schreibt, durch den Regenwald wandert, wird geboren, stirbt, oder Berge besteigt, in Ozeanen schwimmt, schläft, ißt, träumt, und wir alle haben keine Ahnung voneinander… Wie auch immer, das ist ohne Bedeutung. Die Sache ist die: Ich hatte ein Gefühl, als ob ich diesen Jungen kennen würde, eben weil er zur gleichen Zeit wie ich existierte. Ich beobachtete sein Leben ohne ihm wirklich nahe zu sein, ich sah ihn malen, essen, schlafen, küssen, und ich war nicht wirklich dabei, nur als Zuschauer von außerhalb, als ob ich eine neue bizzare Reality-Show sehen würde. Ich sah ihn nirgendwo sonst, außer gerade jetzt, durch den Flur auf mich zukommend, mich anblinzelnd, als ob er mein Gesicht einzuordnen versuchte. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß er vielleicht wußte, daß ich ihn manchmal beobachtete, wenn ich nicht schlafen konnte. Ich drehte mich schnell zum schwarzen Brett, starrte auf ein ekelhaft pinkes Flugblatt und verfluchte meine Schlagflosigkeit. Er blieb nicht stehen, er sprach mich nicht an, er ging direkt ins Zimmer rein – direkt in mein Zimmer – und ich verlor meine Nerven endgültig. Ich drehte mich um wegzurennen und sah das Gesicht eines hübschen dunkelhaarigen Mädchens direkt vor mir. Ihr Arm war oben, als ob sie mich gerade an der Schulter tippen wollte. Sie errötete, lachte, und ich lächelte ihr entgegen. "Bist du Maria?" fragte sie, und ich nickte. "Professor… Kendall…?" "Oh, Gott, nein" lachte sie wieder, und ich mochte sie. "Ich bin das andere Modell – Professor Kendall sagte mir, daß heute ein neues Mädchen kommen würde, und ich dachte, ich tauche ein bißchen früher auf um 'Hallo' zu sagen." "Du hast mich gerade beim Wegrennen erwischt…" gestand ich, und sie lächelte. "Ich war genauso – ich brauchte zwanzig Minuten fürs Umziehen und noch weitere vierzig um aufs Podium rauszukommen…" "Podium …" "Na ja, eigentlich mehr ein großes Tuch mit Sofas und anderen Sitzgelegenheiten – alle sitzen um dich herum während sie arbeiten…" "Und wie bist du da reingeraten? Studierst du Kunst?" "Nein – Biologie. Ich habe eine Wette verloren und der Einsatz war, daß ich für ein Semester Modell stehe. Mich stört es nicht mehr, aber mein Freund ist noch immer nervös…" "Ist er in diesem Kurs?" "Nein, aber sein Bruder…" "Das ist wirklich… kraß…" "Zuerst war es das auch, aber Michael geht immer in die andere Gruppe – es gibt immer zwei Modelle für zwei verschiedene Gruppen…", lächelte sie, "Und was ist mit dir? Warum bist du Modell geworden?" "Hauptsächlich brauche ich das Geld, ich wohne hier in der Nähe und wollte etwas bei Tageslicht machen – abends arbeite ich im 'Luna'…" "Ah ja, dieses Café – ich dachte mir doch, daß ich dich irgendwoher kenne… Oh, die Professorin ist hier – wenn du nicht mehr mitmachen willst, kann ich ihr sagen, daß du einfach nicht gekommen bist…" Ich lächelte ihr zu und fühlte mich allmählich besser – sie war sehr liebenswürdig, und Professor Kendall sah auch toll aus – ihr hauchdünnes Kleid umflog sie, und etwas klingelte melodisch an ihr, als sie den Gang entlangschlenderte. "Nein… ich denke, ich bleibe… ich versuche es…" "Super! Ich verspreche dir, es ist gar nicht so schrecklich, wie es scheint… Apropos, ich bin Liz…". Ich schüttelte ihre Hand, Professor Kendall erreichte uns mit fröhlichem Lächeln, legte ihre Hand auf Liz' Schulter und drückte sie leicht. "Lizzy, Liebes, wie geht's dir?" "Wunderbar, danke – ich habe diesmal vorher gegessen… Mein Bauch gab letztes Mal äußerst peinliche Töne von sich…", erklärte sie mir errötend, "alle haben gelacht… Ich dachte, ich würde sterben…" "Und du bist vermutlich Maria?" Professor Kendall wandte sich mir mit einem freundlichen Lächeln zu und gab mir die Hand. Ich schüttelte sie, und sie bedankte sich für mein Kommen. "Lizzy, Liebes, wir beginnen bald – kannst du Maria in mein Büro begleiten – um sich umzuziehen?" "Sicher, wir sind sofort zurück…" Ich folgte Liz in Professor Kendall's Büro, das genauso bunt war wie sie selbst – überall lagen und standen die Kunstbücher, Skizzen, Statuetten, Blümchen, Seidentücher und Mal- und Plastikutensilien… Liz warf mir einen Bademantel zu und wir fingen an uns umzuziehen. "Wahrscheinlich wird sie dich am ersten Tag schonen und nicht völlig ausziehen – sie führt dich sozusagen ein, und das ist gut so – der Kurs macht zuerst Skizzen von verschiedenen Stufen der Nacktheit, und wenn sie mit dem Ton zu arbeiten beginnen…" "Sind wir bereits völlig entblößt, nicht?" Liz lachte und schnürte ihren Bademantel mit einer Kordel fest, ahmte ein verführerisches Gesicht nach und verschwand im Gang. "Ja genau… soweit ist Gruppe B, aber du bist das Modell für Gruppe A, also mußt du heute noch nicht…" "Gut…", murmelte ich, ihr ins Klassenzimmer folgend. Ich schaffe das schon – wenn Liz sagt, daß es keine große Sache ist, dann ist es das auch nicht… es wird bestimmt lustig… Ich betete zu Gott, daß dieser Junge nicht in Gruppe A sei. *~*~* Ich saß allein im Wohnzimmer, wie immer. Es war 2 Uhr morgens. Parker schlief im anderen Zimmer, aber ich war hellwach. Ich wollte es ihm beim Abendessen erzählen, als er mich gefragt hatte, was ich heute gemacht habe, aber ich kniff. Ich sagte, daß ich im Park war und etwas zu schreiben versuchte. Er fragte nicht nach, was daraus wurde. Eigentlich war es gar nicht so schlimm. Die Tatsache, daß mich alle anstarrten, machte mich zuerst verlegen, aber ich schaffte es, sie alle abzuschirmen… alle außer diesem Jungen. Natürlich war er in meiner Gruppe. Weil der liebe Gott mich haßt. Ich versuchte, niemandem in die Augen zu sehen – eigentlich sollte ich geradeaus starren, aber mit der Zeit wurde es langweilig, und ich begann mich umzuschauen. Alle Köpfe waren über die Skizzen von meinem Körper geneigt – diesmal nur die entblößte Schulter, dankeschön – und ich kehrte immer wieder zu ihm zurück. Er saß beim Fenster direkt vor mir – seine Füße flach auf den Boden gestellt, den Rücken locker an das Fensterglas gelehnt – und zeichnete mich. Ich versuchte, seinen Blick zu meiden, wenn ich fühlte, daß er aufschaute, aber ich wollte sein Gesicht unbedingt noch einmal sehen. So nah hatte ich ihn noch nie gesehen. Er war… sicherlich attraktiv… aber in einer chaotischen mir-ist-egal wie-ich-aussehe Weise… sein Haar stand nach oben – etwas, was ich vorher nicht bemerkt hatte – aber es sah nicht blöd aus, es paßte zu ihm. Ein Mädchen, das weiter hinter ihm saß, sah irgendwie vertraut aus, und plötzlich erinnerte ich mich daran, wie sie ihre Finger in dieses wilde Haar eingegraben und ihr Gesicht an seinen Hals gesenkt hatte… Ich starrte wieder geradeaus. Als der Unterricht vorbei war, verabschiedete ich mich von Liz und ging direkt ins "Luna", weil meine Schicht anfing. Einige Studenten aus diesem Kurs kamen vorbei, und ich bettelte Tabby an, ihre Tische zu übernehmen, aber sie war zu beschäftigt mit dem Öffnen der Kasse, die anscheinend Spaß daran hatte, mindestens zweimal am Abend zu versagen. An einem der Tische saß Jamie, so daß ich glaubte damit klar zu kommen. "Hallo, Püppchen…" er grinste mir zu und zog mich auf seinen Schoß. Ich hattte Jamie das ersten Mal in meinem Theaterkurs getroffen, als ich noch mit der Idee flirtete, die Leiterin eines Musiktheaters zu werden – noch bevor ich mich dazu entschied, mich auf Gitarre und Gesang zu konzentrieren. Wir wurden sofort Freunde. Ich denke, es fing damit an, daß Jamie sich in Alex verknallte, der im ersten Jahr auf der gleichen Etage wohnte. Natürlich wurde daraus nichts, weil Alex andere sexuelle Tendenzen hat, aber wir blieben dennoch gute Freunde. Jamie sagte immer, sollte er die Mädchen bevorzugen, würde er sich Hals über Kopf in mich verlieben, und ich spiele immer seine Freundin, wenn seine Eltern zu Besuch kommen – sie wissen es immer noch nicht, und das wundert mich, aber ich dränge ihn nicht, es ihnen zu erzählen. Es ist seine Entscheidung. Er läßt meine Familienangelegenheiten in Ruhe und ich die seinen – das ist eine unausgesprochene Regel unter uns, eben weil wir beide ziemlich ungesunde Beziehungen zu unseren Müttern haben. "Was kann ich euch bringen?" "Einen Fusseligen Nabel für dieses Früchtchen", piepste Jamie und tippte mit dem Finger auf meinen Bestellblock, "Apropos, du warst heute fabelhaft, Liebes…" "Oh, ja…", sagte der Bursche, der ihm gegenüber saß (ich glaube, er heißt Evan), "ich dachte mir doch, daß du mir bekannt vorkommst…" "Wir erkennen dich in den Kleidern nicht." Es war das Mädchen, das ich vorher in der Klasse bemerkt hatte. Ich lächelte schief. Ich notierte mir die anderen Bestellungen, und als ich zurück zum Tisch kam, hörte ich, wie dieses Mädchen über einen Jungen namens Michael sprach – darüber, welch ein Arschloch er sei, daß er auf ihre Anrufe nicht antwortete, sie im Kurs heute ignorierte und bla-bla-bla… Ich habe das bloß aufgeschnappt, weil auch Liz ihn gerade heute erwähnt hatte – den Bruder ihres Freundes. "Ich habe dich gewarnt…", grinste Jamie und trank. "Oh Mann, bin ich glücklich, daß der hetero ist, sonst wäre ich in grooooßen Schwierigkeiten…" "Warum?", lachte ich, als er mich wieder auf seinen Schoß zog. "Ein Weiberfresser ist dieser Michael, schluckt sie ein und spuckt sie aus…" "Wer war es?" fragte ich, genau wissend, daß es auch dieser Junge … mein Junge – sein konnte… "Der Superscharfe mit den Haaren…" knurrte Steffy (Abkürzung für Stephanie, wie Jamie in mein Ohr flüsterte), "Er ist brilliant, aber so ein Arschloch…" "Oh?" "Ja-ja" sagte sie mit zusammengekniffenden Augen und starrte mich leicht feindselig an. "Was ist mit dir? Hast du einen Freund?" "Ja, habe ich…" murmelte ich und mußte Jamie unter dem Tisch treten, damit er nichts dazu sagte. Jamie und Alex waren die Einzigen auf der ganzen Welt, die von meinem kleinen Intermezzo mit Professor Klein im letzten Jahr wußten, und daß ich noch immer mit ihm zusammen bin. Jamie fand es sogar "cool". Er sagte mir einmal, daß schon einiges erforderlich sei, um seine Ziele so wie ich zu verfolgen, aber Alex zuckte nur mit den Schultern und guckte besorgt, wie immer, wenn es um mein Liebesleben geht. Er murmelte nur, solange ich glücklich sei, sei das alles was zählt. Steffy schien mit Erleichterung zu hören, daß ich bereits vergeben bin, als ob sie befürchtete, daß ich über ihn herfalle und ihn ihr wegnehmen könnte, obwohl er offensichtlich schön längst weg war. Am Ende meiner Schicht ging ich nach Hause, aß spät am Abend mit Parker zusammen und log ihn über meinen Tag an. Er ließ mich bald allein, um seine Papiere im Arbeitszimmer zu ordnen, und als er gegen Mitternacht endlich fertig war, blieb er kurz beim Sofa stehen, küßte meinen Kopf und ging ins Schlafzimmer, ohne mich zu fragen, ob ich mit ihm schlafen gehen würde. Manchmal habe ich das Gefühl, er langweilt sich mit mir. Hätte ich keine Schuldgefühle wegen meiner Lüge über den heutigen Ausflug in die höheren Künste, würde ich das tun, was ich immer tue, wenn ich mich unterbewertet fühle. Ich würde ins Schlafzimmer gehen, seine Kleider runterreißen und ihn daran erinnern, warum er mir angeboten hatte, bei ihm zu bleiben. Statt dessen saß ich auf dem Sofa und beobachtete seine Fenster. Seine. Michaels. Er war allein. Er machte anscheinend Popcorn im Ofen…"Sekundenpop" oder sowas. Er hob den Telefonhörer ab, und während er mit dem Rücken zum Herd stand, begann es zu qualmen… und dann schlugen Flammen hoch. Ich kicherte laut, als er das Popcorn ins Waschbecken schmiß und versuchte, mit einem Tuch die Flammen auszudrücken und den Qualm wegzuwedeln, während er ruhig weitertelefonierte. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, fuhr er zerstreut mit seiner Hand durch die Haare und starrte mit dem Rücken zu mir ins Waschbecken, den Kopf schüttelnd als er den zerstörten Foliensack aufhob. Ich sah, wie er die genießbaren Reste in einer Schüssel sammelte, wie er das Zimmer durchquerte – Fenster, Wand, Fenster, Wand, Fenster. Er setzte sich auf die Couch vor dem Fernseher und starrte auf den Bildschirm. Dabei ließ er die Fingern durch das verbrannte Popcorn wandern, wählte einzelne mehr oder weniger gut aussehende Stücke aus und warf sie in den Mund. Und dann schaute er auf. Ich quiekte, stürzte auf den Boden und lag eine Ewigkeit lang mit dem Gesicht auf den Teppich gedrückt. Plötzlich ging das Licht an, ich drehte mich um und sah den lieben, zerknitterten Parker, der mich anstarrte. "Maria…? Was machst du da?" "Ich… bin eingeschlafen… und vom Sofa gefallen…" Er schmunzelte. Teuflisch. Er kniete auf den Boden und all meine Sorgen über seine Langeweile verschwanden, als er auf Knien zu mir und über mich kroch. Aber als er mich zu küssen anfing, spürte ich Unbehagen. Michael konnte uns hier nicht sehen, aber es war trotzdem… verwirrend – zu wissen, daß er vielleicht gerade jetzt durch das Fenster in diese Wohnung schaute… "Mmmmaria…" "Parker…" "Mmmm…" "Ich bin ein Modell. Für den Skulpturen-Unterricht. Dreimal die Woche, drei Stunden am Tag trage ich bloß ein Tuch und später nicht einmal mehr das." Er hob den Kopf von meinem Hals und starrte mich an. Dann lächelte er. "Das ist erregend…" murmelte er und küßte mich erneut. *~*~* "Alex, bin ich krank?" "Neeein, aber vielleicht ist dein Parker nicht mehr gut genug für dich…" "Parker und ich sind glücklich miteinander…" "Und warum spionierst du dem haarigen Jungen nach?" "…" "Jamie findet ihn süß. Was meinst du?" "Ich sage, er ist ein Schwein – ein Schürzenjäger – er hat jede Woche ein neues Mädchen…" "Du hast gerade die Hälfte der männlichen Kampusbevölkerung beschrieben…" "Deshalb treff' ich mich nicht mit Kollege-Jungen…" "Nö, nur mit ihren Vätern…" "Alex, er ist doch nicht so alt!" "Schon gut, schon gut. Also wie ergeht's dir mit dem Kunstkurs, abgesehen davon, daß dieser Kerl gerade in deiner Gruppe ist? Und abgesehen davon, daß du keine Kleider trägst…" "Ich trage ein Tuch…" "Hmmm." "Was?" "Sind da noch Plätze frei? Ich will teilnehmen…" "NEIN." "Warum denkst du, ich würde deinetwegen kommen?", schnaubte er mich an, "Ich möchte mir den Kerl ansehen…" "Erzähl's nicht Jamie – es würde ihm nur falsche Hoffnung machen…" Er lachte und seufzte. "Ich muß gehen – Unterricht. Bis heute Abend, im 'Luna', ok?" "Ok, bis später, Baby." "Viel Spaß beim Kunstkurs…" *~*~* Ich kam früh in den Kursraum, und während ich, auf die Studenten wartend, herumwanderte, bemerkte ich die Skizzen vom letzen Mal, in der Ecke an die Wand gelehnt. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich blätterte sie schnell durch, bis ich Michaels Namen sah. Ein Blick reichte um zu verstehen, daß Steffy Recht hatte – er war brilliant. Er zeichnete mich so, wie er mich von seinem Platz neben dem Fenster aus sah, aber auch von hinten und von der Seite, mit besonderer Aufmerksamkeit für die Tuchfalten, für meine Haare, meine Hände… meine Augen – das war der einzige fertig gezeichnete Teil meines Gesichts, aber das war definitiv ich… Abgesehen davon, daß er mich so elegant… so wunderschön zeichnete… "Spionierst du mir nach?" Ich sprang auf und wirbelte herum, gleichzeitig die Skizze hinter die anderen schiebend. Es war Michael, und er sah verärgert aus. Er lehnte sich ans Pult, blickte auf die Skizzen, die ich in Unordnung gebracht hatte, und dann zurück zu mir. Seine Augen waren braun, tief und sattbraun und – wütend. "Spionieren…?" "Ja. Du wohnst doch gegenüber, nicht wahr?" "Was hat das damit-" "Wenn du mich sehen kannst, kann ich dich auch sehen, weißt du…" Ich hatte keine Gelegenheit zu antworten oder mich zu rechfertigen, weil einige Studenten ins Zimmer kamen, und er wandte sich ab. Er ging zu seinem Platz beim Fenster und saß da mit seinem Zeichenblock auf dem Schoß und seinem wütenden Blick auf mich. Liz kam auch rein, lächelte mir zu und ich zwang ein blasses Lächeln raus. Danach nahm ich meinen Platz in der Mitte von Gruppe A ein, das Tuch fest um meinen Körper gewickelt. Nach dem Unterricht kaufte ich Jalousien für Parkers Fenster. *~*~* In den restlichen vier Wochen des Kurses sprach er kein einziges Wort mit mir, er saß nur da und zeichnete mich mit heftigen Handbewegungen. In diese Zeit habe ich den Freund von Liz getroffen – Max. Er war sehr nett – nicht wie sein Bruder. Er hatte auch eine Schwester – Isabel – die jenige, die die Wette mit Liz gewonnen hatte. Isabel wunderte sich noch immer darüber, daß Liz durchhielt, und vermutlich bereute sie diese Wette, weil Liz keine Gelegenheit ausließ, auch Isabel dazu zu überreden. Sie sollte es wirklich probieren – sie war das erstaunlichste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte – ganz im Ernst, alle drei Geschwister waren wunderschön auf ganz unterschiedliche Weise – Isabel war einfach eine Göttin, und Max hatte diese unaufdringliche Intensität und diese verblüffenden Augen… wie die von Michael … gute Gene, eindeutig. Hin und wieder kamen sie mich im 'Luna' besuchen (manchmal schleppten sie Michael mit, der dann schweigend am Tisch saß und unmißverständlich klar machte, daß er lieber woanders wäre) und freundeten sich allmählich mit meinem aus Alex und Jamie bestehenden Freundeskreis an (zugegeben ein sehr kleiner Kreis). Alex zeigte Interesse für Isabel, und Jamie ist immer und überall ein fröhlicher Kumpel. Mir gefiel es, daß alle meine Freunde einander mochten… wenn nur Parker das auch tun könnte… Aber es war unmöglich, ich verstand das ... es tat trotzdem weh… *~*~* Vor vier Tagen arbeitete die Gruppe A zum ersten Mal mit Ton und es war auch mein erster Tag mit partieller Nacktheit (Oben ohne, Baby! Wow- wow! – nur ein Witz – es ist eine ernste Angelegenheit – ernste Nacktheit – wie Kunstfilm Nacktheit, oder die Nacktheit des Louvre Museums, eine klassische Nacktheit eben… ich genehmigte mir einen Schuß Wodka, um das zu überstehen – unprofessionell, ich weiß, wäre ich professionell, bräuchte ich keinen verdammten Wodka…) Mein erster Gedanke war, daß es im Zimmer kalt war. Ich vermißte das Tuch bereits in dem Moment, als ich es abzog und um die Taille legte. Ich konzentrierte mich auf die leisen Geräusche von Händen, die auf feuchten Ton klopften, ich mied den Gedanken an fremde Blicke auf meinem Körper. Am ersten Tag war Michael abwesend, und ich kann kaum beschreiben, wie erleichtet ich deswegen war. Aber er kam auch weder am zweiten noch am dritten Tag. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, Max oder Isabel über ihn zu fragen. Nicht daß ich besorgt wäre oder sowas… Warum war ich dann so erleichtet, als ich ihm heute abend im 'Luna' gegen Ende meiner Schicht sah – am Ende der Theke auf eine Tasse Kaffe starrend, die er nicht trinken würde? Ich ignorierte ihn – das erschien mir am höflichsten angesichts unserer Geschichte, aber irgendwie hoffte ich insgeheim, daß er mir folgen und sich dafür entschuldigen würde, daß er sich so blöd aufführte, und ich könnte mich dann auch für mein Glotzen entschuldigen – ohne klein beigeben zu müssen. Ich wollte, daß wir Freunde sind, ich mochte ihn wirklich, und ich wünschte, wir könnten ohne diese Spannung nebeneinander existieren. Ich habe weder viele Freunde noch die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen herumzuhängen (oder überhaupt mit jemand anderem außer Parker – nicht daß er mir das verbieten würde, aber… ich kann es nicht erklären… ich hätte mich dabei schuldig gefühlt). Und jetzt wo ich endlich Freunde um mich habe, möchte ich, daß wir alle fröhlich und glücklich sind… Ich denke, ich verdiene es, und dieser Idiot zerstört alles, indem er mich weiterhin haßt. Er folgte mir, und ich fragte fast, wer denn jetzt wem nachspionierte, aber es würde einem Geständnis gleichen – daß ich tatsächlich schuldig war. "Maria." Ich drehte mich langsam um und wartete. Es tut mir leid, ich bin ein Arschloch, Maria, es tut mir leid, daß es so aussah, als hätte ich das Papier zerreißen wollen, als ich dich zeichnete… "Tu mir einen Gefallen." "Einen Gefallen?" Einen Gefallen? "Bist du auf Droge?" fragte ich, "Weil ich mir anders nicht erklären kann, warum du ausgerechnet von mir einen Gefallen willst…" "Du schuldest mir einen Gefallen." Ich mußte lachen. "Wie kommst du darauf?" "Ich habe keine Polizei gerufen. Pirscherin." "Ich bin keine Pirscherin!" "Du spionierst mir seit Wochen nach, du kommst in meinen Kurs, du bist plötzlich mit meinen Freunden zusammen. Wie würdest du das nennen?" "Erstens, bilde dir nichts ein. Zweitens, ich kann nicht schlafen, und du solltest dir wirklich Jalousien besorgen, drittens, brauchte ich das Geld und mein Freund Jamie ist in diesem Kurs, viertens, deine Freunde sind nett – viel netter als du." Er fuhr ungeduldig mit der Hand durch die Haare und blickte wütend auf mich. "Tust du mir den Gefallen oder nicht?" Was soll ich nur von so einem halten… "Worum geht's?" fragte ich – was soll ich nur von mir halten… "Ich brauche dich als Modell." "Du meinst außerhalb des Kurses?" "Ja, außerhalb des Kurses – es ist unser Abschlußprojekt, und ich muß aufholen." "Hättest du nicht geschwänzt…" "Ich mußte nach Hause fahren, nach Roswell, mein Dad ist gestorben." Ich starrte ihn an, und er starrte zurück. "Warte, warum sind dann Max und Isabel nicht mitgefahren?" Ha, erwischt! Ich kann nicht glauben, daß er über solche Sachen lü- "Wir haben verschiedene Eltern… wir sind verwandt, weil wir es wollten, weil ich praktisch in ihrem Haus aufgewachsen bin, um von Hank wegzukommen…" Seine Stimme erlosch und er blinzelte. Er hatte zuviel gesagt – ich sah es sogar in der Dunkelheit in seinen Augen, ich konnte sehen, wie er sich wieder verschloß, sich entfremdete. "Schau, wenn du mir nicht helfen willst, sag es einfach, aber das würde bedeuten, daß ich Liz fragen muß, und das wird viel länger dauern, weil ich dann alle Skizzen neu zeichnen muß, außerdem wird Max mir den Arsch zertreten…" "Ich mach's…", murmelte ich, und er blinzelte wieder. "Was?" "Ich sagte, ich mach's." "Ich will dein Mitleid nicht…" "Warum redest du dann von 'es wird dauern' und 'Max trit mich'? Appellierst du an mein Wohlwollen? Glaub mir, wenn es um dich geht, hab' ich keins." Ich erwähnte seinen Dad nicht, weil es ein Unfall war. Er hatte nicht vor, von ihm zu reden, und ich wollte nicht, daß er glaubte, das sei der eigentliche Grund für meine Entscheidung ihm zu helfen. Ich denke, er wußte es sowieso, aber das zeigte nur, wie verzweifelt seine Lage tatsächlich war. Er schluckte seinen Stolz herunter, und ich wunderte mich wirklich, wie er nicht daran erstickte. Er entschädigte sich, indem er mit Turbogeschwindigkeit zur seiner Wohnung ging, so daß ich fast laufen mußte, um mit ihm mithalten zu können. Und jedesmal wenn ich zu überholen begann, legte er zu. Er wollte mich nicht gewinnen lassen (was auch immer zu gewinnen gab), und ich ihn auch nicht, so sprinteten wir die fünf Blöcke bis zu seiner Wohnung, unsere Füße stampften auf den Asphalt und unser Atem entwich in kleinen Wolken in die kalte Nachtluft. Er war 2 Sekunden schneller. *~*~* Sein Appartement war sauber und aufgeräumt. Ich erwartete, daß überall Maluntensilien herumliegen würden, zwischen leeren Pizza-Schachteln, Bierdosen, Chipstüten, schmutziger Wäsche…aber nein – ein blank polierter Holzboden mit ein paar Farbflecken. Leinwände und Skizzen standen an die Wand gelehnt, zusammengefaltet oder -gerollt in den Ecken, aber das Erstaunlichste war die Wand zwischen den Fenstern, durch die ich immer gesehen hatte. Er hatte jeden Millimeter davon bemalt. Eine Galaxie aus Sternen und Planeten und Kometen wirbelte in Van Gogh'schen Spiralen in Purpur, Schwarz, Blau, Weiß, Gelb… "Oh mein Gott…" flüsterte ich. Ich sah mich um und merkte, daß er auch an der linken Wand bereits angefangen hat… "Es ist wunderschön…" murmelte ich und drehte mich zu ihm um. Er schloß leise die Tür und lief mit der Hand durch sein verrücktes Haar. Er war verlegen. Wie sollte das denn zu ihm passen? Er ging zur Couch an der Wand und zog sie in die Mitte des Raumes zu seiner Arbeitsfläche. Diese Couch war ziemlich alt – an einigen Stellen zerkratzt und aufgeplatzt, mit mahagonifarbenen Klauenfüßen… sie gefiel mir. Genaugenommen gefiel mir die ganze Wohnung. Sie war fast leer und soweit ich sehen konnte, völlig frei von persönlichen Noten, aber seine Arbeit füllte den Raum aus – und in dieser Arbeit war er. Der kleinste Teil davon erzählte weitaus mehr über ihn, als es irgendein Krimskrams auf den Regalen oder der Bücherstapel neben dem Bett jemals könnten. Ich blickte darauf – auf sein Bett, ungemacht und zerwühlt – und fragte mich, ob Steffy es irgendwann aufräumen würde. Er gab mir einen Bademantel, der nach Isabel roch – nach Gardenien und Rosen – und murmelte, daß ich mich im Badezimmer umziehen könnte. Als ich rauskam, hatte er schon alles vorbereitet. Der Ton lag auf einer großen hölzernen Säule, die ihm bis zur Hüfte reichte. Er tauchte die Hände in einen Wasserkübel, der neben ihm auf dem Boden stand, und began dann den Ton zu kneten, um ihn geschmeidiger zu machen. Ich stand eine Weile hinter ihm und schaute zu, wie seine Finger über den Ton glitten. Er hatte prächtige Hände. "Wo willst du mich haben?" fragte ich. "Geh rüber zur Couch…", antwortete er und beugte sich, um die Hände zu waschen, "Ich zeige dir gleich, wie du sitzen sollst." Ich ging dorthin und blieb stehen, auf ihn wartend. Mein Magen schlug Purzelbäume. Ich dachte daran, daß Parker heute eine Personalbesprechung hatte und erst spät nach hause kommen würde, und ob er wohl hier etwas gegen hätte. Ich hatte mir dabei nichts gedacht. Ich half nur einem Freund – ok, keinem Freund… Ich war bloß nett zu ihm. Ich tat ihm einen Gefallen indem er mich nackt anschauen durfte… Was ohnehin geschehen würde, hätte er im Kurs erschienen… keine große Sache also! Wahrscheinlich würde sich Parker nicht darüber aufregen – er ist reif genug. Er würde darüber genau wie ich denken – wie auf eine Erweiterung des Unterrichts – und nichts weiter. Ich fühlte mich trotzdem ein wenig schuldig und klebte mit meinem Blick auf unserem Fenster, auf die dunklen runtergelassenen Jalousien. Parker ließ sie lieber offen, aber heute ging ich zuletzt aus der Wohnung und ließ die Jalousien runter. Ich wünschte, ich hätte sie oben gelassen – dann wüßte ich jetzt, wieviel Michael sehen konnte … Er kam zu mir und bat mich, hin zu setzen. Er kniete bei meinen Füßen und schaute mir kurz in die Augen, dann legte er die Hände auf meine Schulter und drehte mich ein wenig. Er hob mein Kinn mit den Fingern. "Perfekt…" murmelte er und sah mir wieder in die Augen. Ich spürte, wie ich errötete… wegen seines Blickes… forschenden Blickes… Völlig auf mein Gesicht, auf meine Augen, meine Lippen konzentriert… niemand hatte mich vorher so angeschaut, so als würde er mich wirklich sehen… Ich begann vorsichtig den Gürtel zu lösen, aber seine Hand hielt mich zurück. "Noch nicht…" sagte er und zog seine Hand schnell weg. Er stand auf. "Ich mache zuerst eine Büste… wenn du ein wenig…" Ich ließ den Stoff von meinen Schultern gleiten und wurde erneut rot. "Ja, so ist es gut…" nickte er, trat zurück und ging zu seinem Arbeitsplatz. "Also…" fing ich nach einigen Minuten unbehaglichen (für mich jedenfalls) Schweigens an, "für einen Skulpturen-Kurs habt ihr eine ganze Weile für den Anfang gebraucht…" Er antwortete nicht, und und ich biß mir auf die Lippe, weil ich mich plötzlich blöd fühlte. Ich hätte doch wissen müssen, daß er mich ignorieren würde. "Darf ich nicht reden oder was?" "Nein" "Nein – ich darf nicht?" "Ja. Du sprichst doch auch nicht im Kurs, warum sollte's hier anders sein…" "Oh, ich wußte nicht, daß wir im Kurs sind… 'tschuldige", murrte ich zurück. Er schwieg eine Weile und sagte dann: "Eigentlich ist es der Zeichenkurs Nr.4, mit lebenden Objekten, aber Vivian nahm die Bildhauerei dazu und änderte den Kursnamen, um mehr Studenten anzulocken." "Vivian?" "Professor Kendall." "Oh, klar. Hast du das schon immer gemacht?" "Du sprichst wieder." "Du hast diesmal angefangen…, also hast du?" "Ja." "Du bist wirklich … erstaunlich gut …". Er hob den Kopf vom Tonklumpen und grinste mich an, meine Knie wurden auf einmal weich. Ich hatte ihn vorher noch nie lächeln gesehen. Gott sei Dank saß ich, sonst… "War das ein Kompliment?" "Vielleicht." Er grinste wieder und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf mich, und arbeitete dann strinrunzelnd weiter. "Es tut mir leid," sagte ich plötzlich, und er erstarrte. Wahrscheinlich befürchtete er, daß ich von seinem Vater reden würde. "Wegen des Spionierens und so… Manchmal kann ich nicht schlafen, und bei dir war immer Licht an… es war keine Absicht. Und alles andere hat sich einfach ergeben…" Ich schluckte, als er still blieb, dann platzte ich mit dem heraus, was ich ihn schon den ganzen Monat hatte fragen wollen. "Konntest du mich tatsächlich auch sehen?" Er hörte auf zu arbeiten, starrte mich einen Moment an und ging zu dem abgenutzten Kaffetisch hinter ihm. Er nahm einen alten Skizzenblock, kam zu mir und legte ihn auf meinen Schoß. "Die letzte Seite". Ich öffnete den Block. Drinnen war eine Skizze – von mir, wie ich im alten Sessel in Parkers Wohnung saß. Mit dem Kinn auf den angezogenen Knien starrte ich zum Boden. Die Skizze war nicht besonders detailliert, weil sie aus so weiter Entfernung gemacht wurde, aber das war ich, ohne Zweifel. In der Ecke des Blattes hatte er meine Augen gezeichnet – wie er sie sich vorstellte. Diese Augen sahen fast genauso aus wie auf der Zeichnung im Kursraum. Er lag damit richtig. Ich sah zu ihm auf – er beobachtete mich noch immer. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Er schien nervös zu sein, als ob er erwartete, daß ich ausflippen würde. Ich wollte ihm schon gestehen, daß ich beinahe mal ein Lied über ihn geschrieben hätte, aber hielt mich doch zurück. Weil ich es im Gegensatz zu ihm nicht zuende gebracht hatte. Parker hatte mich ins Bett gerufen, und ich hatte meine Gitarre beiseite gelegt und war seiner Stimme in seine Arme gefolgt. Michael wandte sich wieder dem Ton zu, in dem allmählich die Schultern und ein Kopf erkennbar wurden. Er nahm eins von seinen Instrumenten und begann Stückchen abzuschneiden, die auf den Boden fielen. "Er macht dich unglücklich," sagte er, und ich blinzelte. "Was?" "Der Kerl, mit dem du lebst." "Tut er nicht…" Er unterbrach die Arbeit und sah mich an. "Lächel," sagte er. Ich blinzelte wieder, aber lächelte dann doch schwach, weil ich wissen wollte, worauf er hinaus wollte. "Das habe ich noch nie gesehen. Nicht ein einziges Mal – da drüben." "Das bedeutet gar nichts," unterbrach ich ihn bissig, "Niemand läuft ständig mit einem Lächeln herum …" "Liz tut es…" Ich blinzelte nochmal. Er hatte Recht. "Ja, aber Liz…" "…liebt jemanden, der ihre Liebe erwidert," beendete er meinen Satz und schnitt noch ein wenig Ton ab. Ich wurde wütend. Was erlaubte er sich? Er sah auch nicht besonders glücklich aus, also woher nahm er das Recht, über mich zu urteilen? "Du hast kein Recht, über mich zu urteilen!" "Ich urteile nicht über dich, sondern über deinen Freund." "Wenigstens bleibe ich bei einer Person anstatt die ganze weibliche Bevölkerung der NMU aufzureißen!" "Nicht die ganze – nur von der Kunst-Fakultät." Ich stand auf und griff meine Sachen. Ich schiß auf den Bademantel und wollte mich im Aufzug umziehen. Er faßte mich am Arm als ich vorbeistürmte, und ich hätte ihn beinahe geschlagen. "Hey – du wolltest wissen, was ich sah, und ich habe geantwortet. Ich sah dich. Unglücklich." Er ließ meinen Arm los und trat mit verschränkten Armen zurück. "Du wolltest doch unbedingt reden." "Darüber wollte ich aber nicht reden!" "Dann werden wir es nicht. Wir werden gar nicht reden. Bitte…", er seufzte. "Geh nicht. Ich brauche deine Hilfe, im Ernst. Ich will das nicht mit Liz machen müssen." Ich schwieg – ließ ihn eine Weile schwitzen, dann ging ich zurück zur Couch und setzte mich. "Du hast eine Stunde." *~*~* Ich fiel auf dem Sofa zusammen. Parker schlief bereits und das war gut so… Ich brauchte Zeit mich zu beruhigen, mein rasendes Herz zu beschwichtigen …zu atmen... Es hatte nicht geklappt. Er sagte, er sei kein besonders guter Bildhauer. Er konnte mein Gesicht nicht richtig hinkriegen, etwas stimmte nicht. Er fragte mich, ob er mich berühren könne, um ein Gefühl für die Knochenstruktur zu bekommen. Ich sagte ja. Ich schloß die Augen. Ich spürte wie seine Finger behutsam über mein Gesicht wanderten, über die Wangenknochen streiften, die Kinnlinie nachfuhren, über die Wimpern, und sein Daumen streichelte sanft meine Lippen… Ich öffnete die Augen. Er starrte auf meine Lippen, sein Mund öffnete sich leicht, und dann schaute er zu mir auf, seine Augen drangen in meine… so tief… tief und gesättigt wie Schokolade… Sein Daumen ruhte noch immer auf meiner Unterlippe, mit der anderen Hand hielt er mein Gesicht, und ihre Finger glitten an meinem Hals auf und ab … Oh, Gott – ich wollte mich auf ihn werfen. Stattdessen erhob ich mich auf meine zitternden Beine, murmelte "Ich muß heim…"und stolperte ins Badezimmer, um mich umzuziehen. Ich starrte auf die geschlossenen Jalousien. Ich stand auf, ging zum Fenster und zog an der Schnur. Die Jalousien gingen langsam nach oben, quällend langsam. Er stand vor seiner Arbeit, schaute sie an, berührte sie mit den Fingern… und dann sah er aus dem Fenster, er sah auf mich. Er ging zu seinem Fenster – langsam, quällend langsam. Er legte die Hand auf den Fensterrahmen und starrte mich von der anderen Seite des Hofs an. Ich konnte fast seine Hände auf mir spüren… Ich… ich wollte sie auf mir fühlen… Ich fühlte einen Arm an meiner Taille und sprang leicht erschrocken auf, als Parker mich an seine Brust zog. Bevor ich ihn vom Fenster wegziehen konnte, küßte er meinen Hals, und Michael drehte uns den Rücken zu, seine Hände fuhren grob durch das Haar. Ich ließ die Jalousien runterfallen. *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Ich nahm meinen gewohnten Platz neben dem Fenster ein, und als ich aufblickte, sah ich Liz, die gerade die Stufen runterlief, ihr langes Haar flog hinter ihr. Ich betete zu Gott, daß dieses Semester noch ein weiteres Modell kommen würde. Ich hatte kein besonders großes Verlangen danach, die Freundin meines Bruders nackt zu sehen – nicht einmal der Kunst zuliebe – es wäre einfach viel zu kraß. Ich sah Steffy Louvis reinkommen und seuftzte erleichtert, aber dann setzte sie sich in meine Nähe und holte ihren eigenen Skizzenblock hervor. Ok, diesmal ist sie keins der Modelle… Ich weiß, daß sie das letztes Jahr gemacht hatte – ich hatte die Zeichnungen der Studenten von ihr gesehen. Sie waren ihr alle nicht gerecht geworden. Sie wurden alle von vorne gezeichnet, keiner hatte versucht, sie im Profil zu erfassen… Steffy Louvis hatte ein wunderbares Profil. Ich betrachtete dieses Profil und bemerkte nicht, daß das zweite Modell auch schon reinkam und ihren Platz einnahm. Ich sah stattdessen auf Steffy. Ich wollte ihr Profil zeichnen, genau wie ich voriges Semester die Hände von Kathy Kayson zeichnen wollte, und die Schulter von Julia Dunn das Semester davor, und die Lippen von Susana Harrison noch ein Semester früher… Ich war in den ersten fünfzehn Minuten des Kurses mit den Skizzen vom anderen Modell, das nicht Liz fertig, und fing an, die nächsten Blätter mit Steffy zu füllen. Steffy mit geneigtem Kopf während sie das Modell – ich glaub' sie hieß Tess – zeichnete, Steffy, die mir verstohlene Blicke zuwarf und auf ihre Lippe biß, um das Lächeln zu verbergen. Die Klingel ertönte, sie packte ihre Sachen zusammen und glitt zu meinem Platz, wo ich noch immer mit dem Bleistift die Linien ihres Gesichtes aufs Papier brachte. Sie fragte: "Gefällt dir, was du siehst?" Ich lächelte. Mehr mußte ich noch nie tun. *~*~* Sie kam an diesem Abend in meine Wohnung. Wir stolperten ins Zimmer und sobald sie meinen Gürtel anfaßte, schaltete ich das Licht aus. Auf der anderen Hofseite brannte noch das Licht in ihrem Fenster, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß sie raussehen und mich wieder mit einem anderen Mädchen sehen würde. Ich hatte sie vor einer Woche bemerkt. Es war ziemlich spät, und ich war wie gewöhnlich wach. Ich bemalte meine Wand, sah auf und aus dem Fenster über die Straße. Da sah ich sie. Eine Frau saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa, die Gitarre auf ihrem Schoß. Sie trug nichts außer Unterwäsche und ihre Haar war ein Gewirr aus dichten honigfarbenen Locken. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen bewegten sich, die vollen roten Lippen sangen ein Lied, hörten auf und fingen erneut an, ihre Finger schlugen frustriert auf die Seiten und stellten dann die Gitarre weg. Sie war zu dünn – wie die meisten Mädchen, aber mit zarten Knochen, sie war… zierlich. Sie mußte auf Zehenspitzen stehen, um den Mann zu küssen, der gerade ins Zimmer reinkam und mit seinem Rücken mir die Aussicht verstellte. Seitdem sah ich sie fast jede Nacht – auf dem Sofa oder im Sessel sitzend, mit angezogenen Beinen, wie ein 5-jähriges Mädchen. Manchmal versuchte sie Gitarre zu spielen, aber sie gab immer nach wenigen Minuten auf und saß einfach da, sie sah so … traurig aus. Ich nannte sie das Mädchen mit den traurigen Augen, obwohl ich nie nahe genug war, um diese Augen zu sehen… Ich dachte zu viel über diese Augen nach. Ich zeichnete diese Augen viel zu oft. Zeichnung nach Zeichnung von ihrem Gesicht, und manchmal nicht mal ihr Gesicht – nur ihre Augen. Gelegentlich malte ich diese Augen auch. Ich malte sie in Blau und Grün und Braun… Noch bevor Steffy aufwachte verließ ich die Wohnung,. Ich mied mein Appartement vier Stunden lang in der Hoffnung, daß sie bereits weg sein würde, wenn ich nach Hause zurückkam. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, daß ich ein Arschloch bin. Isabel erinnert mich bei jeder Gelegenheit daran, und Max schüttelt nur jedesmal den Kopf, wenn ich auf die Frage, was ich letzte Nacht gemacht habe, mit einem anderen Mädchennamen antworte. Ich habe noch nie etwas anderes getan, als "Ja" zu Steffy, Julia, Kathy oder Susana zu sagen. Ich fand sie wunderschön, und ich wollte diese Schönheit auf dem Papier festhalten. Sie lächelten mir zu, und ich lächelte zurück. Sie fragten, ob sie mit zu mir kommen könnten, und ich sagte 'sicher'. Sie machten den ersten Schritt immer selbst, und ich habe es immer erwidert, weil es schön war, berührt und geküßt zu werden. Es war eine angenehme Abwechslung – die Zärtlichkeit, die Sanftheit einer Frau, jeder Frau. Was nicht bedeutete, daß ich jemals auf ihre Anrufe antwortete. *~*~* Vivian Kendall bat mich, ihren Kurs zu besuchen. Er war die Erweiterung von Zeichnen III, inkusive Bildhauerei, und das machte mich nervös – ich hatte noch nie zuvor Skulpturen hergestellt, und gewöhnlich bleibe ich bei dem, was ich gut kann. Meiner Erfahrung nach wurde ich ausgelacht – oder verprügelt – wenn ich etwas vermasselte, und ich war auf keins von beidem erpicht. Natürlich weiß ich, daß mich hier keiner auslachen oder schlagen würde – die meisten von ihnen fürchteten mich sogar, und wenn schon, ich meide nichts aus Furcht vor Schmerzen. Das kann ich verarbeiten, ich bin daran gewöhnt… Aber die Demütigung… das konnte ich noch nie hinnehmen. Vivian war überzeugt, daß ich auch in diesem Kurs eine gute Figur machen würde, wie in allen vorher belegten Kursen – unabhänging von der fehlenden Erfahrung mit Ton, so willigte ich ein, weil sie es so sehr wollte. Sie schien zu glauben, daß andere Studenten, wenn sie hörten, daß ich dabei war, auch teilnehmen wollten. Ich bin sowas wie eine Berümtheit an der Kunst- Fakultät. Einige meiner Arbeiten wurden ausgestellt, andere sogar verkauft. Sie alle (insbesondere Vivian) wollten, daß ich Studenten unterrichte, aber ich könnte nie Kunst unterrichten. Wie kann man das überhaupt? Man kann bloß zeigen, wie der Stift oder Pinsel richtig gehalten wird – und sogar dafür habe ich zu wenig Geduld. Ich zeichne und male für mich selbst. Weil es mir richtig erscheint, weil ich es gut kann. Weil ich mit einem Stift oder Pinsel in meiner Hand kein Versager bin. Ich entschloß mich letztendlich, den Skulpturen-Kurs zu belegen, weil er die nächste Hürde war, die es zu besiegen galt (das sagte Vivian und drängte mich damit praktisch in ihren Kurs). Bisher gefiel es mir auch. Ich schaute einfach Liz nicht an und hielt mich von Steffy fern – ich wollte keine Beziehung. Ich wollte bloß das Objekt. Heute sollte ein neues Modell kommen. Tess war schwanger und das wurde allmählich sichtbar – mir gefiel es, mir gefielen die feinen Rundungen ihres Bauches unter dem Tuch, das ihren Körper einwickelte. Ich hatte mir gewünscht, daß sie bleiben würde, aber Vivian hatte bereits einen Ersatz gefunden. Maria soundso. Ich ging gerade durch die Halle, als ich plötzlich einen Blick auf mir spürte. Ich sah auf und erwartete eine mich anstarrende Steffy. Es war nicht Steffy. Sie war es… sie. Sie stand neben dem Wasserspender bei der Klassentür, ein Wassertropfen hing in ihrem Mundwinkel. Sie wischte ihn mit der Hand fort, während sie mich anstarrte, und ich fragte mich, ob sie wußte, daß ich sie manchmal beobachtete… nun, viel öfter als bloß "manchmal". Ihre Augen waren grün. Ich ging weiter. Ich hielt nicht an und sagte auch nichts. Kein einziges Wort, nicht einmal 'Hallo'. Was tust du hier? Warum lächelst du nie? Wer ist der Kerl? Darf ich dich zeichnen? Darf ich dich malen? Darf ich dich küssen und dein Lächeln erwecken? Ich ging einfach weiter. Ich trat ins Klassenzimmer und nahm meinen Platz ein. *~*~* Gewöhnlich tue ich in der ersten Unterrichtshälfte das, was ich tun sollte – aufmerksam das Modell beobachten, Skizzen anfertigen – aus der Sicht von meinem Platz neben dem Fenster. Danach mache ich, was ich will. Ich sehe mich um, ich zeichne etwas oder jemanden, irgendwas oder irgendjemanden, der mir ins Auge fällt. Ich betrachte das Modell nie die ganze Zeit. Ich bin immer früher als die Anderen fertig und langweile mich. Heute langweilte ich mich nicht. Nicht eine einzige Sekunde. Sie war "Maria". Das Mädchen mit den traurigen Augen… Sie kam rein, sah sehr unsicher aus – das Tuch war fest um ihren Körper gewickelt, als sie ihren Platz auf dem Podium einnahm. Vivian hob ihr Gesicht, stellte ihre Arme in Position, und sie hielt mit ihren Händen das Tuch über den Brüsten zusammen. Auf ihren Wangen lag eine leichte Röte – mattes Rosa unter der blassen Haut… Ihr Haar häufte sich über dem Kopf und glitt an Nacken wie ein gefrorener Wasserfall aus goldenen Wellen. Ich sah nicht weg. Nicht ein einziges Mal. Ich zeichnete sie aus meiner Sicht und danach aus jedem erdenklichen Blickwinkel – von der Seite, von oben, von hinten. Dann zeichnete ich ihre Augen… Ich fühlte mich wie ein Spanner. Dieses Gefühl hatte ich früher – als ich sie aus meinem Fenster beobachtete – nicht… Sie war damals weit weg. Alles, was ich nicht sehen konnte, hatte ich mir ausgedacht. Alles war sehr fern, sehr unreal. Hier war sie lebendig, eine reale Person, jemand zum Berühren, jemand zum Halten. Ich sah wie sie atmete, und ich fühlte ihre Augen auf mich, während mein Bleistift über das Blatt flog, die Neigung ihrer Schultern, die Linie ihres Halses wiedergebend. Ich hatte einen ungutes Gefühl, als würde ich etwas Verbotenes tun, indem ich sie aus solcher Nähe ansah. Es fühlte sich gefährlich an. Ich weiß nicht warum. Ich fürchtete mich vor ihr. *~*~* Ich aß zusammen mit Max und Liz zu Abend. Ich sagte kein Wort über Maria. Sie wußten nicht, daß ich in den letzten Wochen ein Mädchen, das jenseits des Hofs wohnte, nicht aus dem Kopf kriegen konnte. Jenseits des Hofs… sie könnte genauso gut auf einem anderen Planeten leben. Mir war nie der Gedanke gekommen, daß ich sie irgenwann so nahe sehen würde, daß sie einen Namen hatte. Ihr Fenster war wie ein Fernseher. Sie war ein Charakter aus einem Drama, das ich mit dem Stift dokumentierte. Ich beobachtete sie mit einem Anflug von Ehrfurcht, weil ihr zuzuschauen bedeutete, der Wahrheit zuzuschauen. Ich sah sie, wenn sie allein zu sein glaubte, und sich alles zu fühlen gestattete, wonach ihr gerade war. Alles war real und irreal gleichzeitig. Ich war fasziniert. Ich erzählte weder Max noch Liz oder Isabel davon. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich weiß es auch jetzt nicht. Ich ging nach Hause und entschied, damit aufzuhören. Aufzuhören ihr außerhalb der Klasse zuzuschauen. Jetzt war sie eine reale Person. Sie verdiente ihr Privatleben, und das, was ich tat, war ein Eingriff darin, das wurde mir plötzlich klar. Ich versuchte mich abzulenken. Ich räumte die Wohnung auf, ich ordnete meine Malsachen, sortierte die Leinwände in beendete und nicht beendete, in gelungene und vermasselte. Ich war fertig, aber die Versuchung blieb. Ihre Lichter waren aus, sie war wahrscheinlich nicht zuhause, aber ich spürte den Drang trotzdem. In einem letzten Versuch, meine Aufmerksamkeit von ihrem Fenster abzulenken, fing ich an, Popcorn auf dem Herd zuzubereiten. In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war das Krankenhaus in Roswell. Sie sagten mir, mein "Vater" hätte einen Autounfall gehabt. "Er liegt im Koma-" Nach einer langen Pause, in der mein ganzer Körper verrückt spielte, fragte ich nach anderen Opfern. "Die Mitfahrerin im anderen Auto… eine junge Frau… sie ist tot. Ihr Auto wurde umgeworfen und…" Das Popcorn brannte, und ich hob die Packung , wedelte damit und beobachtete die Flammen. Ich hörte der Frau am Telefon nur halb zu, weil ich ihre Antwort nicht unbedingt hören wollte, ich wollte keine Details wissen. "Ihr Auto verbrannte…" Ich schmiß das Popcorn ins Waschbecken. Die Frau war tot, aber er war noch immer am Leben. Ich sah, wie die Flammen erloschen, sah, wie die Folie schwarz wurde. Ich fragte die Frau, ob es sein Fehler war, obwohl ich die Antwort wußte, noch bevor sie sie sagte. Er war betrunken. Sie sagte, daß sie nicht wüßte, wie lange sein Koma dauern würde, und bot an mich anzurufen, falls sich etwas ändern würde, falls er erwachen würde. Ich legte auf. Ich nahm das Popcorn. Ich ging zur Couch und setzte mich vor den ausgeschalteten Fernseher, starrte ihn an. Ich suchte noch eßbare Stücke raus. Ich war nicht hungrig, aber ich aß. Ich warf mir Popcorn in den Mund, kaute und fühlte mich wie mechanisch wie ein Roboter, fühlte mich kalt, weil ich wütend war, daß es nicht ihn erwischt hatte. Ich war wütend, weil er noch ein Leben zerstört hatte. Ich sah aus meinem Fenster, ihrem genau gegenüber, sie war da, lag auf dem Sofa in der Dunkelheit. Unsere Blicke trafen sich über den Hof hinweg, ich spürte unsere Verbindung… Ich blinzelte und sie verschwand, als wäre sie nie dagewesen. Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Ich mußte kotzen. Danach starrte ich auf meine Eingangstür und überlegte, ob ich Max' Auto ausborgen und ins Krankenhaus fahren sollte. Ich fühlte keine Verpflichtung Hank gegenüber. Er verdiente meinen Besuch nicht, aber die Frau aus dem Krankenhaus erweckte Schuldgefühle in mir. Ich wollte sie anschreien und ihr klarmachen, daß er diese Frau getötet hatte und vermutlich mich auch umgebracht hätte, wäre ich bei ihm geblieben. Ich wollte sie dazu bringen, ihm ein Kissen übers Gesicht zu halten – bis er zu atmen aufhörte. *~*~* Am nächsten Tag ging ich früh zum Kurs. Ich fuhr nicht ins Krankenhaus und war fest entschlossen, es nie zu tun. Ich wollte mich keineswegs dazu zwingen lassen, dort hinzufahren und bei seinem Bett zu sitzen – zur Erleichterung von jemandem, der keine Ahnung davon hatte, wer er wirklich war, und deshalb dachte, er verdiene es nicht allein zu sein, jemandem, der Mitleid mit ihm hatte, bloß weil er auch in den Unfall verwickelt war. Sie war auch früh hier. Maria. Ich folgte ihr. Ich wollte mit ihr sprechen. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, aber ich wollte unbedingt mit ihr reden. Ich wollte ihr erzählen, daß ich sie manchmal beobachtete, und daß es mir leid tat. Ich schaute über ihre Schulter. Sie sah sich meine Zeichnung an, sie musterte sie. Plötzlich traf mich die Erkenntnis, daß sie mich auch beobachtete. Sie beobachtete mich aus ihrem Fenster. Deshalb hatte sie mich am ersten Tag in der Halle so angestarrt, deshalb warf sie mir im Unterricht immer wieder verstohlene Blicke zu. Und letzte Nacht… beobachtete sie mich wieder. Ich wurde plötzlich von Zorn überwältigt. Von Raserei. Ich fragte mich, wie oft sie mich dort allein gesehen hatte … wie ich meine eigene Arbeit zerstört hatte, weil ich ihn nicht zerstören konnte. Wie ich geweint hatte. Geweint wie ein beschissenes Baby, weil er jeden Moment auftauchen und all das hier wegnehmen konnte – meine Illusion von Unabhängigkeit, die ich mit meinem Talent erschaffen hatte. Der einzige Grund, warum ich Roswell verlassen durfte, war, daß er nicht für meine Ausbildung zahlen mußte – ich ernährte mich selbst. Sogar als ich bei den Evans einzog, zahlte ich für mich selbst. Ich zahlte ihnen die Miete, obwohl sie sie nicht annehmen wollten. Es war wichtig für mich, auf eigenen Beinen zu stehen, und sie verstanden das. Jetzt war es leichter. Ich hatte Geld, aber Geld zu haben war noch gefährlicher, weil er deswegen kommen konnte. Ich bin ein Erwachsener, und er terrorisiert mich noch immer. Und sie hatte sie gesehen, diese Furcht. Sie mußte sie gesehen haben, weil sie immer da war. Sie schaute mir auch zu. Das machte mich verletzlich. Sie hatte mich allein gesehen, ungeschützt. Es erschreckte mich und machte mich wütend, und erst als ich bereits sprach, verstand ich, wie irrational meine Wut und wie verlogen ich selbst war. Ich attakierte sie, weil ich wollte, daß sie mir nicht mehr zusah. Ich wollte ihr zeigen, daß die Person, die sie gesehen hatte, keineswegs ich war. Ich war nicht so verletzlich, ich war nicht so schwach. "Spionierst du mir nach?" Sie sprang auf und wirbelte herum, gleichzeitig die Skizze hinter die anderen schiebend. Ich starrte sie an. Ich war wütend auf mich selbst. Ich wollte ihr Angst einjagen. "Spionieren…?" "Ja. Du wohnst doch gegenüber, nicht wahr?" "Was hat das damit -" "Wenn du mich sehen kannst, kann ich dich auch sehen, weißt du…" Ich ging weg. Ich setzte mich auf meinen Platz und fühlte mich wie das letzte Arschloch, aber ich beruhigte mich damit, daß sie ab jetzt sicher aufhören würde. Sie würde mich nicht mehr beobachten. Ich würde in Sicherheit sein. *~*~* Ich ignorierte sie im Kurs. Ich zeichnete sie automatisch, ließ mich nicht hinreißen (und das brachte mich um). Ich ignorierte sie, wenn sie und ihre Freunde auf Einladung von Max und Liz mit uns herumhingen. Ich schlafwandelte durch den Monat, verwirrt und bestürzt, weil eine der treibenden Kräfte meines Lebens vorübergehend fehlte. Hank lag im Krankenhaus, noch immer bewußtlos. Er konnte jetzt nicht plötzlich auftauchen und mein Leben zerstören. Ich sollte glücklich sein. Ich war es nicht. Die Sicherheit war bloß eine Illusion, genauso wie meine Freiheit. Er würde sicher irgendwann aufwachen, er würde wahrscheinlich ins Gefängnis geschickt werden, aber irgendwann würde er wieder rauskommen, und ich würde fürchten, daß er mich dann finden würde – egal wo. Dann wurde ich nochmals angerufen. Diesmal war ein Mann dran, ein Arzt. Hank war tot. Ich borgte mir Max' Auto. Ich fuhr zurück zu dem Ort, der nie mein Zuhause gewesen war, und gab vor, um einen Mann zu trauern, der mein Leben zur Hölle gemacht hatte, solange ich mich erinnern konnte. Ich ging, weil es von mir erwartet wurde, weil ich alles war, was er hatte. Schuld gewinnt immer über Stolz. Ich bin froh, daß ich es tat. Ich bin froh, daß ich mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er von der Erde verschlungen wurde… Ich verließ sein Grab fast gelähmt vor Erleichterung. Ich kehrte zur NMU zurück und fragte Vivian, ob ich das Semester mit einer unabhängigen Arbeit außerhalb des Kurses beenden konnte, weil ich bereits im Rückstand war. Sie willigte ein und umarmte mich mitfühlend. Ich gestand fast, daß ich keineswegs traurig war, ich wollte einfach nicht hier herumsitzen und damit kämpfen, die anderen einzuholen. Ich wollte es zuhause tun. Außerdem wollte ich nichts mit Steffy zu tun haben, die mir ständig tötende Blicke zuwarf. Maria wollte ich auch nicht sehen. Ich fühlte mich schuldig und beschämt wegen meines letzten Angriffes, wegen allen meine Angriffen in ihr Leben. Die Idee mit der unabhängigen Studienarbeit ging nach hinten los – ich mußte weiterhin mit Maria arbeiten. Hätte ich ein anderes Modell genommen, müsste ich von vorne anfangen – mit allen Skizzen und Studien, den ganzen Vorarbeiten für die Abschlußwerke – eine Büste und ein Gemälde. Das Semester war fast zuende, und ich hätte dafür nicht genug Zeit gehabt, egal wie sehr ich mich ins Zeug gelegt hätte. Ich gab nach. Ich fragte Maria, ob sie für mich posieren würde, und ein Teil von mir war in Erwartung, sie für mich alleine zu haben, erregt. Ich genoß es, sie anzusehen, ich genoß es, sie wieder und wieder neu zu erschaffen. Ich war immer noch ein vorsichtig ihr gegenüber, immer noch unsicher daswegen, was sie gesehen haben konnte. Aber das Verlangen, sie zu betrachten und zu malen war stärker als der Drang, mich vor ihr zu verstecken. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den Mut aufbrachte sie zu fragen. Ich ging gegen Ende ihrer Schicht ins 'Luna' und saß noch ungefähr eine Stunde an einer Tasse Kaffe nippend da, bis ich sie endlich fragte. Ich erzählte ihr, daß ich einen Gefallen von ihr brauchte, und sie reagierte wie erwartet – sie war empört und verärgert. Ich sagte ihr, daß sie mir einen Gefallen schuldete, obwohl sie mir gar nichts schuldete. Alles was ich sagte, war ein grosser Bluff, und ich erwartete jeden Moment, daß sie es mir vorwerfen würde. Und dann erklärte ich, warum ich den Unterricht ausgelassen hatte. Ich erzählte ihr, daß mein Vater gestorben sei, und das war das Letzte, was ich ihr jemals hatte sagen wollen. Es rutschte mir einfach raus, und ihre Augen wurden etwas sanfter. Ich wollte wegrennen. Ich hasse Mitleid. Ich hasse es wie die Pest, und ich will es nicht. Ich weiß, daß sie deshalb nachgab, deshalb zusagte. Ich sagte ihr nicht, daß sie es vergessen sollte, sondern nahm sie einfach beim Wort, weil ich diesen Kurs bestehen wollte. Ich wollte sie für meine Abschlußarbeit. Die Skizzen, die ich von ihr angefertigt hatte, waren gut – die Besten, die ich jemals gezeichnet hatte – obwohl ich mich verdammt hart anstrengte, geistig abwesend zu sein. Ich wüßte zu gern, was ich mit ihrer Hilfe erschaffen würde, wenn ich mich dazu bringen könnte, sie wirklich anzuschauen. Wenn ich endlich mich und diese niederschmetternde Angst, so gesehen zu werden, wie ich tatsächlich war – ein Weiber verfolgender Schwanz von einem Feigling, der sich über den Tod seines Adoptivvaters freute – überwinden würde . Ich jagte sie zurück zu meiner Wohnung. Ich mußte das tun, ich konnte sie nicht gewinnen lassen – ich hatte bereits viel zu viel Schwäche gezeigt, als ich sie um Hilfe bat. Ich führte sie die Stufen hoch und lauschte den Atemgeräuschen, als wir die Treppe erschöpft von dem Lauf erstiegen. Unsere schwer keuchenden Atemzüge wickelten sich ineinander und ließen mein Herz wieder härter schlagen anstatt zum normalen Rhythm zurück kehren. *~*~* "Oh mein Gott…", flüsterte sie, "es ist wunderschön…" Ich schloß die Tür hinter mir. Sie betrachtete die Wand, an der ich in den letzten Wochen hin und wieder gearbeitet hatte, von Schlaflosigkeit gepeinigt. Mir gefiel, daß es ihr gefiel, aber das Kompliment berührte mich peinlich. Es bedeutete mir zu viel. Ich schob meine Couch in die Mitte des Arbeitsbereichs und gab ihr Izzy's Bademantel. Ich versuchte, ihr nicht zuzuhören, während sie im Badezimmer war, ich ordnete meine Utensilien und füllte einen Eimer mit Wasser. Ich versuchte nicht zuzuhören, als ich die Hände ins Wasser eintauchte und anschließend den Ton bearbeitete, aber ich fing trotzdem verschiedene Geräuschfetzen auf – das Flüstern der Seide auf ihrer Haut, das leise "zzzt" des Reißverschlusses… "Wo willst du mich haben?" Ich schreckte beim Klang ihrer Stimme auf, so nahe an meinem Ohr. Ich hatte nicht bemerkt, daß sie das Badezimmer bereits verlassen hatte. Meine Gedanken waren zu sehr mit ihrem Entkleiden beschäftigt gewesen. Das war peinlich. Gewöhnlich war ich viel profesioneller. "Geh rüber zur Couch…", murmelte ich, "Ich zeige dir gleich, wie du sitzen sollst." Ich beendete das Herumkrammen der Utensilien und wischte meine nassen Hände an der Jeans ab. Ich war nervös, ich war verlegen, ich fühlte micht blöd und gar nicht so, wie ich mich gewöhnlich in der Gesellschaft einer Frau fühlte. Ich ging zu ihr und kniete mich bei ihren Füßen. Sie duftete wunderbar – nach sich selbst (Wiesenblumen) und nach dem 'Luna' (Kaffebohnen). Es war eine merkwürdige Kombination, aber ich mochte sie. Ich sah zu ihr hoch und dachte daran, wie sehr ich das hier wollte, und wie sehr ich wollte, daß auch sie mich ansah. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern, spürte die Wärme ihrer Haut durch die dünne Seide und berührte ihr Gesicht, hob ihr Kinn – Haut gegen Haut. Ich nahm mir Zeit für diese Berührung – unter dem Vorwand, den richtigen Winkel finden zu müssen. "Perfekt…" Sie errötete, und in diesem Moment wußte ich, daß ich die Bildhauerei niemals lieben könnte… es war unmöglich, diesen weichen Anflug vom Rosa mit Ton festzuhalten... Sie bewegte die Hände zum Knoten an ihrer Taille. Ihre Finger begannen ihn zu lösen, und ich hielt sie auf. Ich spürte Wärme in meinem Gesicht aufsteigen und zog meine Hand schnell zurück. Nicht, daß ich sie so nicht sehen wollte... ich stellte mir bereits vor, wie ihre Haut auf dem karmesinroten Hintergrund dieser antiken Couch aussehen würde, aber – "Noch nicht..," sagte ich und stand auf, "Ich mache zuerst die Büste… wenn du ein wenig…" Sie ließ den Stoff von ihren Schultern gleiten. "Ja, so ist gut…" Ich ging zurück zu meinem Podium. Meine Finger verlangten danach anzufangen, damit ich die Büste bald fertig habe und endlich mit dem Gemälde beginnen kann. "Also… für einen Skulpturen-Kurs habt ihr eine ganze Weile für den Anfang gebraucht…" Ich knurrte und ließ meine Hände in dem Versuch, die gewünschte Form entstehen zu lassen, über die Oberfläche des Tons wandern. "Darf ich nicht reden oder was?" "Nein" "Nein – ich darf nicht?" "Ja. Du sprichst doch auch nicht im Kurs, warum sollte's hier anders sein…" Sprechen war noch gefährlicher, als sie aus dieser Nähe anzuschauen, als mit ihr allein zu sein. Ich fürchtete, sie würde darüber reden wollen, was zwischen uns geschah. "Oh, ich wußte nicht, daß wir im Kurs sind… 'tschuldige". Ich schaute auf. Sie sah mich an, und ich seuftzte. "Eigentlich ist es der Zeichenkurs Nr.IV, mit lebenden Objekten, aber Vivian nahm die Bildhauerei dazu und änderte den Kursnamen, um mehr Studenten anzulocken." "Vivian?" "Professor Kendall." "Oh, klar. Hast du das schon immer gemacht?" "Du sprichst wieder." "Du hast diesmal angefangen…, also hast du?" "Ja." "Du bist wirklich … erstaunlich gut …". Ich schaute wieder auf und mußte darüber lächeln, wie sanft ihre Stimme war, und wie sie mit dem Kompliment zögerte, weil sie immer noch auf mich wütend sein wollte. "War das ein Kompliment?" "Vielleicht." Ich grinste. Sie gab nicht auf, sie machte es mir nicht leichter, und ich mußte gestehen, es gefiel mir. Ich bin wie sie – nicht aufgeben. Niemals. "Es tut mir leid," sagte sie plötzlich, und ich erstarrte kurz, meine Hände klammerten sich in den Ton. Was zur Hölle tat ihr leid? Ich spürte eine verlegene Wut in meinem Gesicht aufsteigen, als ich begriff, daß sie von Hank redete. Ich war deswegen gegen sie aufgebracht. Ich dachte, es wäre klar, daß dies kein Gesprächsthe- "Wegen des Spionierens und so…" Oh. Scheiße. "Manchmal kann ich nicht schlafen, und bei dir war immer Licht an… es war keine Absicht. Und alles andere hat sich einfach ergeben…" Ich bin ein Arschloch. Ein Arschloch. "Konntest du mich tatsächlich auch sehen?" Ja. Ich sehe dich jede Nacht, seit Wochen, weil ich mich nicht abwenden kann. Ich ging zum Kaffetisch und nahm den Skizzenblock. Da drin war meine erste Zeichnung von ihr. Ich zeigte sie ihr, weil ich ihr die Wahrheit sagen wollte. Ich wollte ihr gestehen, daß ich schuldig dessen war, wessen ich sie bezichtigt hatte. "Die letzte Seite." Ich blieb neben ihr stehen, schaute wie sie den Block öffnete, und mein Herz hämmerte in der Brust. Ich bereitete mich auf den Schlag vor, erwartete, daß sie mich anschreien würde, was für ein Heuchler ich doch sei. Sie sah vom Blatt auf. Sie schien nicht verärgert zu sein... Ihr Gesicht zeigte den gleichen Ausdruck wie bei ihrem ersten Blick auf die Wand mit den wirbelnden Sternen und Kometen. Sie sah verblüfft aus. Das hatte ich nicht erwartet. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, so drehte ich mich um – weg von ihr, von ihren Augen – und rannte fast zurück zu meiner Arbeit, vertiefte mich darin, um sie nicht ansehen zu müssen. Ich wartete darauf, daß sie aufspringen und zu schreien anfangen würde. Aber sie tat es nicht. Sie saß einfach da, musterte die Zeichnung mit einem leichten Stirnrunzeln, und zog sie mit ihren Fingern nach. Vielleicht dachte sie daran, daß ich sie so sehen würde. So traurig wie die Frau auf dem Bild. "Er macht dich unglücklich," sagte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte. Ich forderte mein Schicksal heraus. Ich forderte es eindeutig heraus. "Was?" "Der Kerl, mit dem du lebst." Halt dein Maul. Halt dein Maul. "Tut er nicht…" Ich starrte sie an. Ich konnte das nicht hinnehmen, ich wußte, daß ich recht hatte, und aus unerklärlichen Gründen war es mir nicht egal. Es war mir nicht egal, daß sie so unglücklich war. "Lächel." Ich erwartete eigentlich nicht, daß sie tatsächlich lächeln würde, aber vor ein paar Minuten hatte ich auch nicht erwartet, daß sie mich nicht erschlagen würde, dennoch war ich überrascht, als sie lächelte. Ich schluckte. "Das habe ich noch nie gesehen. Nicht ein einziges Mal – da drüben." "Das bedeutet gar nichts. Niemand läuft ständig mit einem Lächeln herum …" "Liz tut es…" "Ja, aber Liz…" "…liebt jemanden, der ihre Liebe erwidert." Ich schnitt ein wenig Ton ab, versuchte sie nicht anzuschauen und wunderte mich, was über mich gekommen war, daß ich mich über solche Sachen unterhielt. Ich wollte nicht mit ihr über ihr Leben streiten. Ihr Leben ging mich nichts an. "Du hast kein Recht, über mich zu urteilen!" "Ich urteile nicht über dich, sondern über deinen Freund." Halt endlich dein Maul! "Wenigstens bleibe ich bei einer Person anstatt die ganze weibliche Bevölkerung der NMU aufzureißen!" Ops. "Nicht die ganze –" knurrte ich, "nur von der Kunst-Fakultät." Sie sah aus, als wollte sie mich ohrfeigen. Für einen Momen dachte ich, sie würde es tatsächlich tun, aber sie stand auf und stolperte in Izzy's Bademantel zur Tür. Ich schnappte ihren Arm, als sie an mir vorbeilief, und riskierte einen körperlichen Schaden, weil es mir leid tat, weil ich nicht wollte, daß sie ging. "Hey – du wolltest wissen, was ich sah, und ich habe geantwortet. Ich sah dich. Unglücklich." Ich ließ ihren Arm los. "Du wolltest doch unbedingt reden." "Darüber wollte ich aber nicht reden!" "Dann werden wir es nicht. Wir werden gar nicht reden." Das war sowieso besser. Ihr Privatleben anzusprechen war ungeheuer dumm von mir gewesen – es gab ihr die Berechtigung über mein Privatleben zu reden, und das konnte ich nicht. „Bitte…" Ich schluckte, denn ich haßte die Verzweiflung in meiner Stimme, aber das war der einzige Weg, sie aufzuhalten. Ich mußte betteln, sonst würde sie gehen. "Geh nicht. Ich brauche deine Hilfe, im Ernst. Ich will das nicht mit Liz machen müssen." Sie starrte mich an. Sie drehte sich um und ging zur Couch. Sie setzte sich und blickte finster. "Du hast eine Stunde." *~*~* Es ging nicht. Ich war fast fertig, aber es sah nicht richtig aus. Sie war es, und auch wieder nicht... Ich schaute Maria an, die geduldig dasaß, geradeaus auf die Uhr blickte und wartete, bis die letzten fünf Minuten der versprochenen Stunde vergingen. Sie spürte meinen Blick und sah mir in die Augen. "Was… was ist?" "Es ist… ich kann dich nicht richtig erfassen... " Ich kam hinter dem Podium hervor und hielt mich noch rechtzeitig zurück, bevor ich den nassen Ton in mein Haar schmierte. Ich wischte die Hände an der Jeans ab. „Ich bin kein großartiger Bildhauer..." „Das bezweifle ich..." antwortete sie sanft. Ich betrachtete mein Projekt, musterte es und versuchte zu verstehen, was ich falsch machte, und dann sah ich zurück zu Maria. Ich hatte eine Idee. "Maria..?" "Was?" "Darf ich dich berühren?" Sie blinzelte, und ich setzte eilig nach: „Ich meine, dein Gesicht... damit ich ein Gefühl für die Knochenstruktur bekomme... Vielleicht weiß ich dann, wie es sich anfühlen sollte... mit dem Ton..." Ihre Augen flogen kurz zum Fenster, und ich wußte, daß sie an ihren Freund dachte, wußte, daß sie es wahrscheinlich kaum abwarten konnte, zu ihm zurück zu kehren und sich weiterhin zu belügen, indem sie glaubte, daß sie glücklich war. Ich wollte gerade‚ 'Vergiß es' sagen, als sie zu mir zurück blickte. „Okay...". Ich blinzelte. Ich hatte nicht wirklich geglaubt, daß sie es erlauben würde. Ich wusch in der Küche sorgfältig den Ton von meinen Händen und kam zu ihr. Sie war angespannt. Ich konnte es in der umgebenden Luft spüren, ich konnte es an ihrem Körper sehen. Sie war nervös. Ich kniete wie vorhin vor ihr nieder und streckte mich nach ihr, nahm ihr Gesicht vorsichtig in meine Hände... Mein ganzer Körper fühlte sich... lebendig an... Jeder Atemzug, ihrer und meiner, jeder Herzschlag war mir bewußt. Das Gefühl ihrer Haut unter meinen Händen war... unbeschreiblich... als hätte ich nie zuvor eine Frau berührt... Ich verfolgte mit zittrigen Fingern ihre Wangenknochen, ihr Kinn, die Linie ihres Halses... ich prägte mir mit geschlossenen Augen die Formen ihres Gesichts ein. Ich berührte ihre Lippen... streichelte sie zärtlich mit dem Daumen, erkundete ihre Gestalt, ihre Sänfte... Es gab keinen Laut, nicht einmal ein Atemgeräusch, nur das reine Gefühl... Ihre Lippen teilten sich beim Luftholen, und ich öffnete die Augen, mein Blick auf sie geheftet. Mein Daumen streichelte über sie, dann fanden meine Finger ihren Hals, glitten bis zu ihrer Schulter und verschoben den Stoff. Mein Herz raste, meine Hände zitterten auf ihrer Haut, und das Verlangen sie zu küssen war so stark, daß es schmerzte. Sie schloß ihre Augen, und ich starrte auf diese halboffenen Lippen. Sie hob ihr Gesicht, und ich spürte wie ihr Puls unter meinen auf ihrem Halz tanzenden Fingern explodierte. Ich stellte mir vor, wie ich sie küßte, wie meine Lippen über ihren Hals streiften, wie ich ihren Herzschlag, ihre warme Haut unter meinem Mund fühlte… Ich hätte es sicher getan, wenn sie nicht plötzlich die Augen geöffnet hätte und vor mir zurückgeschreckt wäre, und mich nicht erschüttert und erstarrt zu ihren Füßen gelassen hätte. "Ich muß… heim…" Während sie ihren Mantel überzog, sagte sie mir, ich sollte sie anrufen, wenn ich sie nochmals bräuchte. Sie schrieb hastig ihre Nummer auf einen Papierfetzen. Ich antwortete nicht, ich sah bloß zu. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich auf die geschlossene Tür starrte, bevor ich zu mir kam und zu meiner Skulptur zurückkehrte. Die Erinnerung an ihr Gesicht, und wie es sich unter meinen Fingern angefühlt hatte, war noch in meinen Händen. Ich formte den Ton nach meinen Erinnerungen – die Halslinie, die Gesichtszüge, die Kurve ihrer Lippen… Ich schloß die Augen und fühlte die Formen, genau wie vorher, als sie noch hier war – lebendig und wunderschön unter meiner Berührung. Als ich die Augen öffnete, war sie wieder da, sie sah mich an und ihre halboffenen Lippen warteten auf meinen Kuß. Genauso hatte sie mich angesehen, die ganze Zeit … Es bedeutete nichts. Ich hatte bloß mein Wunsch geformt. Ich berührte die Kopie, aber sie war kalt. Ich drehte mich zum Fenster. Ich hatte mir mehrmals versprochen, das nie wieder zu tun, aber ich spürte ihre Präsenz und konnte nicht widerstehen. Ich ging zum Fenster, mit angehaltenem Atem, langsam als wäre ich unter Wasser. Ich legte meine Hand auf das Fensterglas und wünschte mir, sie wäre nicht so weit entfernt. Ich wollte sie anrufen. Ich fragte mich, ob sie kommen würde, wenn ich jetzt anrufen würde. Und dann war er da. Ihr Freund. Ich sah, wie er sie an der Stelle küßte, wo ich sie berührt hatte. Es machte mich innerlich krank, und ich wandte mich ab. Sie war vergeben. Das hatte ich von Anfang an gewußt. Ich weiß nicht, warum ich dieses Verlangen zuließ. Ich weiß nicht, warum sie so anders war als die übrigen Mädchen, als die übrigen Modelle, die ich hierher brachte und berührte, aber sie war anders. Sie war anders, weil ich um sie besorgt war, wirklich besorgt um sie und ihre traurigen Augen. Ich fürchtete mich davor, was sie vielleicht von ihrem Fenster aus sehen konnte, aber das, was ich durch mein Fenster sah, gab mir das Gefühl, sie … beschützen zu müssen. Ich hatte kein Recht auf dieses Gefühl, kein Recht auf dieses Verlangen, und in diesem Moment entschied ich mich, sie nicht zu irgendetwas zu zwingen, nicht zu versuchen, sie von diesem Idioten von gegenüber wegzulocken. Heute würde ich die Skulptur beenden und sie morgen anrufen. Ich würde sie bitten, mir noch für das Abschlußbild zu posieren, und das würde alles sein. Wenn ich sie danach sehen sollte, mit Liz und Max und Izzy … auch gut. Bis dahin war ich schon umgezogen und hatte ein anderes Modell gefunden. Ich starrte auf ihre runtergelassenen Jalousien und zwang mich, an all das zu glauben. *~*~* Der Telefon klingelte, als ich sie gerade anrufen wollte. Sie rief zuerst an. "Du weißt doch noch, daß ich dir einen Gefallen tue… außerhalb des Kurses zu posieren?" "Ja?" "Gut… Jetzt brauche ich einen. Einen Gefallen meine ich …" "Welchen denn?" "Ich brauche eine Unterkunft… für circa eine Woche…" Ich ließ beinahe den Hörer fallen. "Ich wollte Liz oder Isabel fragen, aber dann ist mir eingefallen, daß sie im Studentenwohnheim wohnen, und Mitbewohnerinnen haben…und dann dachte ich mir, du hast doch eine eigene Wohnung… eine riesige Wohnung… und ich habe mich gefragt, ob du mir erlaubst, für ein paar Tage deine Couch zu besetzen… so könntest du arbeiten soviel wie du willst, und ich könnte da bleiben..." Sie plapperte, sie war nervös. "Warum brauchst du eine Unterkunft?" Ich bemühte mich, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen, nicht so, als hoffte ich, daß sie mir sagen würde, daß sie diesen Kerl verlassen hatte. "Parker's Schwester kommt für ein paar Tage zu Besuch, und sie weiß es nicht… über uns… Parker wollte es ihr noch nicht erzählen, weil…" sie seufzte. "Weil…?" "Ich weiß das "weil" nicht. Ist nicht von Bedeutung. Er hat seine Gründe, und ich will sie nicht hinterfragen. Er ist genug gestreßt wegen der Abschlußprüfungen, und ich habe ihm versprochen, daß ich etwas finden würde, also willst du mir helfen oder nicht?" "Ist er einverstanden? Damit, daß du bei mir bleibst?" "Er weiß nichts von dir…" ihre Stimme erlosch, als sie bemerkte, wie das klang, und fügte schnell hinzu, "Er hätte sicher nichts dagegen. Er ist zu erwachsen dafür…" "Wofür?" ich grinste. "Für Eifersucht?" "Glaub mir, Guerin, er hat keinen Grund zur Sorge…" *~*~* Um acht Uhr am gleichen Abend stand sie vor meiner Tür mit einer Stofftasche in der einen und einer Gitarre in der anderen Hand. Sie dankte mir nochmal für die Unterkunft, und ich murmelte "kein Problem". Sie fragte mich, wie weit ich mit der Büste sei und ich antwortete, daß sie fertig ist. Sie fragte, ob sie sie sehen könnte, und ich sagte nein. "Sie werden alle nach der Abgabe ausgestellt, – dann kannst du sie sehen…" Sie stellte ihre Sachen bei der Tür ab und drehte sich zu mir, mit den offenen Armen in einer hier-bin-ich-wo-willst-du mich-haben-Geste. Ich gab ihr den Bademantel, und sie verschwand im Badezimmer mit einer Unbekümmertheit, die bei mir Neid auslöste. Ich selbst war nervös, sie hingegen zeigte sich völlig ungestört darüber, daß sie die nächsten Stunden nackt mit mir alleine verbringen würde, während ich ihren Körper malen und ihn beglotzen würde – mit viel zu viel Freiheit im Namen der Kunst. In solchen Momenten bin ich froh, daß ich nicht wie Max die Medizin oder wie Izzy Pädagogik ausgewählt hatte. Ich betrachtete die Couch in der Mitte des Zimmers und stellte mir vor, wie sie darauf liegen würde, stellte mir den Kontrast vor zwischen karmesinrotem Samt und ihrer hellen Haut, ihrem goldenen Haar… Ich ging zum Schrank und fand ein Tuch – in tiefem Weinrot. Ich stellte sie mir mit diesem Tuch drappiert vor, auf der Couch liegend, vielleicht mit einer Hand unter der Wange… Dann bemerkte ich ihre an die Wand gelehnte Gitarre. Ich hörte die Badezimmertür hinter mir klicken, und das Rascheln der Seide, als sie zur Couch ging. Sie blieb daneben stehen, ihre Händen hielten den Bademantel und mit einem Zeh zeichnete sie Kreise auf den Boden. Sie wartete auf mich. Ihr Haar war zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, und ich ging zu ihr, streckte meine Hand nach diesem Knoten aus. Sie blickte mich ein wenig gespannt an, als meine Hand ihre Wange streifte. Sie bewegte sich nicht, als ich die Haarnadeln herausnahm, als ich beobachtete, wie die Haarlocken herunterfielen und ihr Gesicht, ihre Schultern umrahmten. Ich führte meine Finger durch ihre Locken, unfähig dem zu widerstehen. Ich trat einen Schritt zurück und bat sie, sich auf die Couch zu legen. Ihre Finger wanderten zu dem Knoten an ihrer Taille, und diesmal hielt ich sie nicht zurück. Sie drehte mir den Rücken zu, der Stoff glitt von ihren Schultern und flog zu Boden. Ich ging zu ihr und umwickelte von hinten ihre Taille mit dem Tuch. Ich verknotete das Tuch unter ihrem Bauchnabel – meine Arme streiften ihre Hüfte, und meine Lippen berührten fast ihren Nacken – ich atmete sie ein. Als der Knoten fertig war, schritt ich eilig zurück und vergrub die Hände in meinen Haaren, um dem Drang, sie zu umarmen und festzuhalten, widerstehen zu können. Sie legte sich auf die Seite und wartete auf meine Anweisungen, ohne mich anzusehen, ohne meine Augen zu treffen. Ich kniete mich neben ihr nieder und legte meine Hände auf ihre nackten Schultern – der Schock über die Berührung fuhr durch meinen Körper, und ich bemühte mich verzweifelt, ihn zu ignorieren. Ich deutete ihr sich so hinzulegen, daß sie auf ihrem Bauch lag und ihr Kopf auf dem rechten Handrücken ruhte. Das Tuch, das ihren Unterkörper umwickelte, floß vom Rand der Couch auf den Boden. Ich stand auf und betrachtete sie, meine Augen wanderten ihren Körper auf und ab. Die Farben waren prächtig… genau wie ich sie mir vorgestellt hatte… lebendig und intensiv… Purpur, Rot, Gold und ihre helle, blasse Haut mit einem rosafarbenen Hauch auf den Wangen, auf den Brüsten – wie aquarelle Küsse. Ich fragte sie, ob ich ihre Gitarre benutzen durfte, und sie blinzelte, bevor sie mit sanfter und leicht zittriger Stimme"ja" sagte. Ich nahm die Gitarre aus der Hülle und stellte sie neben ihr an die Couch gelehnt, auf einer Seite ruhend. Ihre freie Hand rutschte zu den Seiten, und ich mußte lächeln. "Perfekt…" Ich ging zur Leinwand, die längst vorbereitet war und auf mich wartete. Ich zeichnete die Form ihres Körpers zuerst in hellem Rosa – die Linie ihres Rückens, die unter dem Tuch verschwand, ihre glatte Haut, die wie weißer Sand in purpurfarbenes Wasser eintaucht, ihr Arm, der wie ein vom Wind anmutig gebogener Birkenzweig auf der Couchkante ruht, mit den Fingern über den Gitarrenseiten gefächert. Ich arbeitete wie ein Besessener, schmierte ihre Farbtöne über mich und meine Kleidung. Ich genoß das Gefühl, sie auf mir zu spüren, die Sanftheit der Farbe wie die Sanftheit ihrer Haut. Manchmal blickte ich sie an, und mein Herz stand für einen Moment still, dann kehrte mein Atem zurück, und ich wandte mich wieder dem Bild zu – bis sie sich aus dem Leinen wie die Venus aus dem Meer erhob, gestützt von dem tiefroten Kissen, und das purpurne Tuch schmiegte sich kaum an ihren Körper, als es zu Boden fiel. Ich malte die Konturen ihres Gesichts mit in Farbe getauchten Fingern, den Kurven der Wange, des Kinnes folgend. Ich tauchte die Finger in Gold und zog dicke Wellen über ihre Schultern, so erhielt ich den gewünschten Grundriß für den nächsten Tag. Ich hörte für diese Nacht mit einem tiefen Seufzer auf und merkte erst da, daß ich den Atem angehalten hatte, und die Erleichterung schoß mit einem Schaudern durch mich und ließ mich fast den Halt verlieren. Ich streifte die nasse Farbe von meinen Händen an meinem Shirt ab und stellte das Bild mit dem Gesicht zur Wand auf die Staffelei, damit es trocknete, bevor ich eine Plane darüberziehen konnte. Ich wollte nicht, daß sie es jetzt sah. Ich fürchtete, daß sie, wenn sie das Bild selbst noch in dieser unvollständigen Form sehen würde, verstehen würde, wie ich sie wirklich sah, wie ich sie immer sehen werde. *~*~* Ich säuberte mich im Badezimer, und als ich rauskam, saß sie bereits bekleidet auf der Couch, mit den Knien an die Brust gezogen – genau wie damals, als ich sie zum ersten Mal bemerkt hatte – und mein Herz stich. Die Sonne ging auf, die Strahlen beleuchteten die frischen Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie wischte sie schnell weg, als sie mich wahrnahm. Ich ging zu dem Fenster, durch das sie schaute, und lehnte mich ihr gegenüber an die Wand. "Geht's dir gut?". Sie lächelte und nickte. "Ja… Bloß neidisch…" "Worauf?" "Auf dich. Du solltest dich mal sehen, wenn du das machst…", sie deutete auf das Bild. "Soviel… Leidenschaft… Ich hatte die auch mal…", sie ließ die Finger über die Seiten der Gitarre, die an der Couchseite stand, laufen. "Was ist passiert?" Sie zuckte mit den Schultern und klopfte mit den Fingern auf den Holzgriff, dann ließ sie es. "Ich weiß nicht… Ich… fand eine andere Leidenschaft…" Ich starrte sie an. "Du meinst… eine hat die andere… ersetzt…", fing ich vorsichtig an. Ich wollte sie nicht ärgern. Nicht jetzt. "Wenn überhaupt… dann müßten sie einander… noch verstärken…" Ich nahm tief Luft, "Er inspiriert dich nicht." Sie stritt das nicht ab. Sie zuckte mit den Schultern. Ich wollte sie fragen, ob er das wert sei. Aber ich ließ es sein. "Spiel etwas für mich." Sie schaute auf, überrascht. "Was du willst… Ich möchte dich hören." "Neeein…" Ich lächelte verlegen, "Komm, du hast mich malen gesehen…" "Du hast mich heute nackt gesehen…" Ich lächelte leicht, weil ich wußte, was sie meinte. Sie hatte mich auch auf diese Weise gesehen. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was sie wohl durch ihr Fenster beobachten konnte, aber ich hatte nicht berücksichtigt, wieviel von meinem Inneren ich ihr zeigte, indem ich sie mir beim Malen zusehen ließ, sie sehen ließ, wie ich darin eintauchte. Das war mein wirkliches Ich, mein unbeschütztes "Ich". Ich wollte sie genauso sehen. Sie sah auf mich, ihre Augenbrauen hoben sich mißtrauisch. Ich wartete schweigend, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie seufzte und nahm die Gitarre. Sie räusperte sich und lief mit den Finger über die Seiten, mit einer Vertrautheit, die ein Lächeln in ihr hervorrief, trotz ihrer eigenen Überzeugung und ihrer Behauptung, daß sie dafür "das Gefühl verloren hatte." "It's been long long long time… How could I ever have lost you… When I loved you… It took a long long long time… Now I'm so happy I found you… How I love you… So many years I was searching… So many tears I was wasting, oh, oh… Now I can see you… Be you… How can I ever misplace you… How I want you… Oh I love you… You know that I need you… Oooh I love you…" Sie öffnete die Augen mit einem langen zittrigen Atemzug. Ich starrte sie sprachlos an. "Meine Mom hat das für mich gesungen… Das ist das erste Lied, das ich gelernt habe…" "Maria…" Das Telefon klingelte. Ich ignorierte es. Sie errötete und kickte mit dem Fuß in meine Richtung. "Gehst du nicht ran?" Ich lächelte und schüttelte den Kopf, 'nein'. Sie rollte die Augen, sprang auf, griff den Hörer und gab ihn mir. Es war Isabel. Ich sah Maria die Gitarre einpacken, sah wie sie sich auf die Couch niederlegte, um ein wenig zu schlafen, bevor sie zum Kurs gehen mußte. "Hey…", sagte ich, nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, "Iz will wissen, ob du zu der Party heute abend gehen möchtest…" Sie lächelte verschlafen, "Kann ich später antworten?" "Klar…" Ich betrachtete sie, wie sie hier in meiner Wohnung mit geschlossenen Augen auf meiner Couch lag. Mir gefiel es, daß sie hier war. Mir gefiel es, daß sie bei mir war. "Ich muß in einer halben Stunde gehen, und bin fast den ganzen Tag nicht da, also wenn ich dich nicht sehe… wir treffen uns dann um circa zehn bei Izzy …" "Okay… ich sehe dich dann vielleicht…" "Maria?" "Michael?" "Es war sehr schön." Sie hob ihren Kopf, um mich anzusehen, und flüsterte ein "Danke". Sie beobachtete mich, während ich meine Sachen sammelte und das Shirt wechselte. Ich sagte ihr, daß sie sich aus dem Kühlschrank bedienen könnte. Ich sagte ihr auch, daß sie mein Bett für diese Woche haben könnte, weil ich sowieso nicht viel schlafen würde. "Ich wei…", sie errötete, "Ich meine, ich auch nicht… aber… danke…" *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* "Maria..?" murmelte Parker an meiner Schulter und bedeckte sie mit kleinen Küssen. "Hmm?" "Sei mir nicht böse…" Ich faßte sein Gesicht mit meinen Händen und zwang ihn mich anzusehen. Er war dabei, mit mir Schluß zu machen. Es war aus… Eineinhalb Jahre meines Lebens verloren… "…Meine Schwester kommt morgen für ein ganzes Wochenende…" Ich lächelte sein besorgtes Gesicht an und küßte erleichtert seine Wange. "Warum sollte ich deshalb böse sein? Ich kann kaum erwarten, sie zu treffen…" Er zog sich mit einem verstörten Gesichtsausdruck zurück und legte sich auf den Rücken neben mich. Ich stützte mich auf einen Elbogen und wartete darauf, daß er erklären würde, was dabei nicht stimmte. "Sie weiß… nichts von dir, Maria…" Der scharfe Stich in meinem Herzen ließ mich blinzeln. Er sagte nichts mehr. "Und du willst es ihr auch nicht erzählen…" "Nein, Maria… es ist… kompliziert." "Du schämst dich meinetwegen…", ich saß auf und streckte die Beine aus dem Bett. Ich starrte auf meine Zehen, die sich in den Teppich krallten. Sein Teppich. Nich unserer. Nichts hier war unseres. Er saß hinter mir auf und umarmte mich, ich schob ihn nicht weg, ich wollte hören, wie er meine Feststellung abstritt. "Ihr Ehemann hat sie gerade verlassen… wegen einer jüngeren Frau… Ich denke, es ist keine gute Zeit, ihr von uns zu erzählen…" Ich schwieg. Er küßte meine Schulter. Er streckte die Hand aus und faßte mich am Kinn, drehte mein Gesicht zu sich. "Ich werde es ihr sagen, ich werde... aber nicht dieses Wochenende, okay?" "Jaah." "Vielleicht kannst du bei deinen Freunden übernachten? Wie hießen sie gleich? Laurie und Eileen?" "Liz. Isabel. Ich werde etwas finden. Keine Sorge." "Es ist nur für dieses Wochenende…" "Ja…" Er küßte mich und legte sich zurück, während ich sitzen blieb, weil ich wütend war. Ich war wütend und fühlte mich minderwertig. Eine Stunde später ging Parker weg und ich rief Michael an. Ich rief ihn an, weil "Laurie" und "Eileen" noch immer im Studentenwohnheim wohnten und keinen Platz hatten. Ich rief ihn an, weil er mir sowieso einen Gefallen schuldig war. Ich erklärte ihm nicht, warum Parker mich mit seiner Schwester nicht bekannt machen wollte. Ich wollte nicht, daß er darauf hinwies, wie lahm Parker's Entschuldigung war. Ich brauchte und ich wollte das nicht. Ich ging zur Arbeit, und Jamie kam vorbei. Er spürte sofort, daß etwas los war, und ich erzählte ihm, was geschehen war. Er umarmte mich, und als ich erzählte, daß ich dieses Wochenende bei Michael verbringen würde, sah er mich aufgebracht an und gab mir einen Klaps auf den Hintern. "Du glückliches kleines Flittchen!" Ich kicherte trotz meiner Entscheidung, depressiv und wütend zu bleiben (was ich in Jamies Nähe nie schaffe) und klärte ihn über unser Arrangement auf, über mein Posieren am vorigen Abend – den Teil mit der Berührung auslassend. "Er war ein perfekter… Gentleman…" "Ja, klar, aber bist du die perfekte Lady gewesen?" Ich lachte. "Gib zu, du wolltest ihn." "Ich gebe gar nichts zu!" "Keine Frau kann länger als zehn Minuten mit ihm zusammen sein, ohne seine Kleider wegreißen zu wollen. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache." Ich starrte ihn an und er lachte. Er küßte mich auf die Wange und drückte mir das Geld für den Kaffe in die Hand. "Viel Glück für heute, Süße…" *~*~* Ich stand in dem zugebundenen Bademantel von Isabel in seinem Badezimmer und betrachtete mein Spiegelbild. Es war eine Tatsache – wie Jamie gesagt hatte. Letztes Mal wollte ich mich auf ihn werfen. Mehrmals. Dieser Gedanken kam mir fast jede zehnte Minute… Ich atmete tief durch und band das Band um meine Taille. Das war's also. Er wartete draußen auf mich. Ich starrte in meine Augen und wünschte mir schöner zu sein, einen besseren Körper, bessere Haare zu haben. Er war gut. Er war soooo gut, und ich fühlte mich nicht mal annähernd wie ein angemessenes Subjekt. Ich steckte mein Haar zu einem wirren Bündel und fand mich damit ab, daß ich hier nichts mehr machen konnte, um mein Aussehen zu verbessern. Ich ging hinaus zu ihm und versuchte meine Verlegenheit zu verbergen… oder wenigstens nicht wie ich selbst auszusehen. Ich ging direkt zur Couch und stand dort abwartend, kaum atmend. Er kam hinter mir her, und ich schreckte auf, als seine Finger über meiner Wange glitten während er mein Haar löste… und seine Hände dadurch laufen ließ… Ich schloß die Augen mit einem einzigen Gedanken, "Ich bin in grooooooßen Schwierigkeiten…" Er bat mich mich hinzulegen, und ich löste den Knoten an der Taille. Mein Rücken war ihm zugekehrt, und ich erwartete, daß er jeden Moment zu lachen anfing, daß er sagen würde, er würde jemand anderen suchen… Aber es tat es nicht. Er trat hinter mich, sein Atem erwärmte die Haut an meinem Nacken. Seine Arme streiften meine Hüften, als er das Tuch um mich wickelte, und ich war mir sicher, er wußte genau, was er mit mir anstellte, wußte genau, daß meine Knie zitterten und mein Herz laut pochte… Ich legte mich nieder, sank in die Couch ohne ihn anzusehen. Ich konnte es nicht. Ich wußte nicht, was ich tun würde, wenn ich auf diese Augen treffen würde… Er war neben mir, seine Hände lagen auf meinen Schultern und als ich mich auf den Bauch drehte, glitten sie an meinen Schulterblättern nach unten. Seine Hände waren kühl und glatt, und ich wollte nicht, daß er sie von meiner Haut wegnahm. Schuldgefühle über die mich erfüllende Flamme verschlangen mich, so daß ich seine Frage, ob er meine Gitarre benutzen könnte, kaum hörte… Ich sah ihm bei der Arbeit zu und jedes Mal, wenn er mich anschaute, entbrannte ich unter seinem Blick; erst wieder zum Atmen fähig, als er sich dem Bild zuwandte, und den Atem wieder verlierend, als ich ihn Farbe auf Brust, Arme und ins Haar kleckern sah, so erfüllt, so lebendig… Was für eine Leidenschaft… Ich kannte sie, diese Intensität, diese atemlose Intensität… Ich vermißte sie so sehr… Er schaute auf von der Leinwand auf, schwer atmend, und seine Augen drangen in meine, und es… *~*~* "… war einfach die größte erotische Erfahrung meines Lebens…" "…Wow…" "Ja… ich … ich habe auch für ihn gesungen …" Ich war so unsicher… Ich war bisher noch nie so nervös, wenn ich vor jemanden singen sollte… Ich hatte Angst, es vor ihm zu tun… Seine Meinung bedeutete mir zu viel… "Du magst ihn." "Alex…" "Nein, ich denke, das ist gut für dich…" "Alex." "Maria, kannst du dich wirklich auf Dauer mit Parker zusammen sehen? Er will dich nicht seiner Familie vorstellen – das verkürzt die Hochzeitsgästeliste ziemlich…" "Ich habe dir gesagt warum…" "Ich weiß, ich weiß…" "Alex, daß ich Michael faszinierend finde, bedeutet nicht, daß ich nicht mehr mit Parker zusammen sein will…" "Okay,.. fein… Ich möchte nur nicht, daß du verletzt wirst…" "Ich weiß, Alex, und ich danke dir dafür, aber…" "Ich soll meinen Mund halten?" "Ja." Er seufzte. "Okay… Kommst du heute abend zu Isabel?" "Ich weiß nicht… Vielleicht schreibe ich ein wenig…" *~*~* Ich kehrte von Proffessor Kendall's Kurs zurück, rief Alex an, setzte mich auf die Couch und wunderte mich darüber, wie unterschiedlich es sich doch anfühlte, ob man vor fünfzehn Menschen nackt posierte, oder nur vor einem … Mann… Vor Michael hatte ich mich entblößter gefühlt, ich war mir meines Körpers, der Verbindung zwischen uns, und ich war mir seiner Tätigkeit, etwas zu erschaffen, viel bewußter. Das war aufregend, auf eine erotische und alarmierende Weise… Es inspirierte mich. Ich nahm die Gitarre und ließ sie für die nächsten zwei Stunden nicht los. Es fühlte sich gut an… die Gitarre in meinen Händen, sie fühlte sich richtig an, sie paßte, sie gehörte in meine Hände. Diese Wohnung half. Seine Wohnung… Sie war so offen und frei, ich konnte hier leichter atmen, und das ersten Mal seit Jahren wollte ich schreiben… Ich legte die Gitarre für die Nacht mit einem Gefühl der Zufriedenheit, der Erfüllung, weg. Ich hatte noch eine Stunde bis zum Treffen bei Izzy. Ich wanderte durch die Wohnung. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich schnüffeln würde – er besaß nicht viel – bis ich seine alten Skizzenblöcke durchsah. Der älteste Block mußte aus seiner Kindheit stammen. Er war mit Sternen und Galaxien gefüllt, mit Bildern von einem dunkelhaarigen Buben mit großen Ohren und von einem blonden Mädchen mit mandelförmigen Augen und süßem Lächeln. Max und Isabel. Sie waren sofort erkennbar… Schon damals so viel Talent… Ich blätterte durch einige weitere Zeichenblöcke und mich überflutete eine Zärtlichkeit zu diesem Kind, das solch seltsame Bilder von seinen durch die Wolken fliegenden, auf mythischen Biestern reitenden Freunden erschuf – so unschuldig und wunderschön, voller irreal vibrierender Farben. All das war durch ihn und seine erstaunlichen Händen entstanden. Ich nahm den letzten Block und öffnete ihn auf der ersten Seite. Mein Herz sank in den Bauch. Es war ein Gesicht. Ein Gesicht mit einem schreienden Mund, voll mit gefährlichen Zähnen, füllte das ganze Blatt. Ich blätterte mit zittrigen Händen durch den Rest und traf auf weitere schwarze Löcher anstelle von wirbelnden purpurnen Galaxien… Max und Isabel verschwanden und da blieb nur ein Junge, ein gesichtsloser kleiner Junge, so winzig zwischen all diesen schroffen Spitzzähnen und Fäusten. Mein Bauch zog sich schmerzhaft zusammen. Ich legte den Zeichenblock vorsichtig zurück auf seinen Platz, ich wußte, daß niemand ihn sehen sollte. Ich weiß nicht warum, aber in diesem Moment sah ich auf. Ich schaute aus dem Fenster. Die Lichter in Parkers Wohnung waren an, und die Jalousien, die ich gekauft hatte, waren hochgezogen. Er war da. Er war mit einer Frau. Nicht mit seiner Schwester. Er küßte sie, er streichelte sie, er öffnete die Knöpfe ihrer Bluse… Ich drehte mich um und rannte. *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Wir warteten vor Isabels' Studentenwohnheim darauf, daß die Anderen runterkamen und uns treffen würden, als Alex und ich sie bemerkten. Sie lief auf dem Gehsteig gegenüber, allein. Ihre Arme waren fest um sie geschlungen, und sie antwortete nicht, als Alex ihren Namen rief. Alex machte einen Schritt in ihre Richtung, aber ich hielt ihn ohne nachzudenken zurück. Er war ihr Freund, er war viel eher ihr Freund als ich, aber ich wollte derjenige sein, der zu ihr ging und herausfand, was geschehen war. Ich wollte derjenige sein, der ihre Sorgen verschwinden ließ. "Ich gehe…" hörte ich mich sagen. Alex schaute mich lang an und nickte. "Kümmere dich um sie…" *~*~* Ich holte sie einen Häuserblock von meiner Wohnung entfernt ein. Ich rief sie, aber sie ging weiter und hielt nicht an, bis ich sie erreichte und am Arm faßte. "Hey…" "Oh, hey…" ihr Lächeln konnte die Tränen in ihren Augen nicht überspielen. "Ich war spazieren und habe den Schlüssel vergessen…". Sie sah mich an und sagte – so leise, daß ich sie kaum hören konnte –, "Kannst du mir die Tür öffnen? Bitte?" Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen, und ich fragte sie nicht, was los war. Ich tat was sie wollte, ich ließ sie in die Wohnung. Sie ging direkt ins Badezimmer, während ich auf der anderer Seite der Tür ihr gedämpftes Weinen hörte, und wie sie den Wasserhahn aufdrehte, weil ich nichts hören sollte. Ich klopfte an die Tür und wartete. Ich klopfte noch einmal, und sie murmelte mit gebrochener Stimme, "Michael, bitte, geh einfach…" Ich öffnete die Tür. Sie saß auf der Ecke der Badewanne, das Gesicht in den Händen versteckt. Ich drehte das Wasser ab und setze mich neben sie, wartend. "Mir geht's gut," murrte sie. "Dir geht's nicht gut." Sie sah auf, und ich konnte mich nicht zurückhalten, ich wollte sie berühren. Meine Finger hatten kaum ihre Wange erreicht, als sie mich am Handgelenk faßte. "Sie war nicht seine Schwester…" sagte sie und fiel gegen mich, rollte sich auf meiner Brust zusammen. Ich fühlte ihre Tränen mein Shirt durchnässen und hielt sie fest, streichelte ihr wirres Haar und ließ sie ausweinen. "Ich sah sie durch das Fenster…" "Maria…" Sie schob sich zurück und stand mit zittrigen Beinen auf. "Sag es nicht, Michael… Ich brauch' nicht zu hören, wie dumm es von mir war, ihm zu vertrauen… Ich brauch' kein 'Ich-habe-dich-gewarnt'…" "Das wollte ich nicht sagen…" Ich nutzte den Moment und ging zu ihr. Ich hielt einen Atemzug von einer Berührung entfernt an und sagte leise, "Ich wollte sagen, daß es mir leid tut, daß du das ansehen mußtest…" "Ja, mir auch…" Sie atmete aus und hielt an. "Weißt du was? Ich bin froh darüber, ich bin froh, daß ich es weiß…" Sie lachte bitter, "Ich bin so dumm…" "Du bist nicht dumm. Du hast ihn geliebt." Sie sah mich an. "Ich erinnere mich nicht mehr, warum…", flüsterte sie. "Ich bin spazieren gegangen… Ich mußte einfach raus, ich fühlte mich so betäubt… und ich habe nachgedacht – über ihn, über das letzte Jahr – und mir wurde klar, daß ich nie wirklich glücklich war… Ich gab soviel für ihn auf, aber er gab mir gar nichts, nichts reales. Ich blieb bei ihm, weil ich nichts anderes zu tun wußte, und brachte mich dazu, ihn zu lieben – denn wenn ich ihn nicht geliebt hätte, wozu hätte das geführt? Es hätte mich armselig und traurig gemacht, wie meine Mutter…" Sie ging an mir vorbei aus dem Badezimmer und setzte sich auf mein Bett, mehr sich selbst als mich leise fragend, "Was wird denn jetzt?.." Ich antwortete trotzdem. "Alles wird gut," sagte ich von der Tür aus. "Alles wird gut, Maria. Du bist wunderbar, und er verdient dich nicht" Ich setzte mich wieder neben sie, gar nicht überzeugt, ob sie genau das hören wollte. "Ich bin sicher, du findest jemand anderen, jemanden, der dich liebt und weiß, was er an dir hat. Jemanden, der dich genauso inspiriert wie du ihn…". Meine Stimme erlöschte, und ich verfluchte mich selbst für mein blödes Verhalten, ihr das gerade jetzt zu sagen. Das war nicht fair. "Michael… ich…" will es nicht, brauche dich nicht. "Ich… sah deine Zeichnungen…" Ich blinzelte sie an. "Was?" "Ich sah sie… auch die letzte…" Ich stand vom Bett auf. Mein Herz stand still, und in meiner Brust begann es zu brennen – heiß und schmerzhaft… Sie hatte es gesehen… Sie wußte es. Nicht einmal Max und Isabel hatten es je gewußt… Das war zuviel. Ich war zu verwundbar. In jedem erdenklichen Sinne wurde ich entblößt und geöffnet, und mein erster Impuls war, sie wegzustoßen und mich zu verstecken. Ich wollte etwas, das ich nie für möglich gehalten hatte. Ich wollte, daß sie geht. Ich drehte mich um, sah in ihr tränenbedecktes Gesicht und dachte an mich selbst, nicht an ihr gebrochenes Herz, nicht an ihren Schmerz. Ich dachte an mich und an ihre Macht über mich – jetzt und für immer. Ich dachte an Hank, der mich nie brechen konnte… aber sie könnte es. Ihr Mitleid könnte es. Ich sagte ihr nicht, daß sie gehen sollte, aber sie ging. Ich folgte ihr nicht. Ich folgte ihr nicht, weil ich wußte, daß sie mich nie wiedersehen wollte. Weil sie es wußte. Sie wußte wie kaputt und verdorben ich war. Sie wußte, daß ich den größten Teil meines Lebens emotional gelähmt war und wahrscheinlich teilweise heute noch bin. Wie zum Teufel konnte ich ihr das geben, was sie brauchte, was sie verdiente, wenn ich selbst gar nichts wußte… Wenn ich nicht wußte, wie ich ihr meine Liebe gestehen, wie ich mich ihr öffnen sollte, wie ich mit dem was sie tat mich abfinden sollte, ohne den Zwang zu verspüren, sie wegzustoßen und mich zu verstecken. Wie zum Teufel könnte ich immer für sie dasein, wenn meine eigenen Komplexe mir im Weg standen? Ich ließ sie gehen, weil ich nicht wußte, wie ich sie davon abhalten konnte. Ich ließ sie gehen, weil ich nicht wußte, wie ich mich entschuldigen sollte, entschuldigen für meinen Zorn auf sie, weil sie mich – genau wie ich sie – kennen wollte. *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Ich weiß nicht wie lange oder wohin ich über die Straßen lief. In meinem Gehirn spielten sich die Ereignisse des letzten Jahres wiederholt ab, und mir wurde klar, wie leer diese Zeit gewesen war. Ich lehnte mich an eine Hauswand, schnappte unter Tränen nach Luft und versuchte, mich zusammenzureißen. Ich verfluchte Parker, ich verfluchte mich selbst für meine Ignoranz gegenüber offensichtlichen Tatsachen. Er liebte mich nicht. Er wußte nicht einmal, ob er mich überhaupt in seinem Leben haben wollte. Er ließ mich bei sich wohnen, weil ich sonst nirgendwo hingehen konnte. Ich fragte mich, ob ich alleine die ganze Zeit diese Beziehung erzwungen hatte, und aus ihr etwas gemacht hatte, was sie gar nicht war… Scheiße, so war das nicht. Er hatte mich genauso verführt wie ich ihn, er riß mich ständig zu sich zurück, auch wenn ich nicht ans Weglaufen dachte. Ich war so lange von ihm eingehüllt gewesen, daß ich ein jegliches Gefühl für mich selbst verloren habe, und Michael hat mir das gezeigt. Ich war nicht imstande gewesen, es selbst herauszufinden. All meine Anstrengungen endeten damit, daß ich diesen Stillstand in meinem Leben als normal empfand. Aber die Liebe darf deine Kunst nicht unterdrücken. Sie sollte sie lebendiger, reicher machen, sie sollte ein perfektes Meisterstück gebären. Das versuchte Michael mir die ganze Zeit zu sagen. Ich besaß ein leeres Notenblatt mit Parker. Ich hatte meine Gitarre und keine Ahnung, was mit ihr tun sollte. Aber mit Michael… Ich hatte eine Melodie in meinem Kopf, die Wörter in meinen Händen, die nur darauf warteten, auf ein frisches Blatt Papier geschüttet zu werden. Ich ging wie betäubt durch die Straßen, versuchte diese Erkenntnisse zu verarbeiten, die Bilder von Parkers Händen auf dieser Frau aus meinem Gedächtnis zu löschen, als ich eine Hand auf meinem Arm spürte. Ich drehte mich um und drängte die Tränen bestmöglich zurück. Michael. Ich folgte ihm die Stufen hoch zu seiner Wohnung, und er fragte nichts. Ich küßte ihn beinahe dafür. Ich selbst hatte noch keine Ahnung, wo ich stand, und er wußte das. Ich sah das Fenster, die Lichter waren aus, und ich spürte wieder Tränen aufkommen. Ich ging direkt ins Badezimmer. Ich konnte nicht vor ihm heulen. Das wäre erniedrigend. Er hatte meine Beziehung mit Parker von Anfang an richtig erkannt. Ich wollte nicht, daß er wußte, wie verletzt ich war, wie schwach und dumm und töricht ich mich fühlte. Er kam rein und setzte sich neben mich. Er ließ mich in sein Shirt weinen, er streichelte mein Haar. "Alles wird gut. Alles wird gut, Maria. Du bist wunderbar und er verdient dich nicht. Ich bin sicher, du findest jemand anderen, jemanden, der dich liebt und weiß, was er an dir hat. Jemanden, der dich genauso inspiriert wie du ihn…" Ich starrte in seine dunkelbraunen tiefen Augen und konnte kaum atmen. Ich wollte, daß er dieser jemand sein würde. Der Gedanke kam plötzlich und so klar… und alles machte auf einmal einen Sinn. Es fühlte sich richtig an… die letzte Nacht, seine Hände in meinem Haar, auf meinem Körper, seine Augen auf mich gerichtet, seine Stimme, die meinen Name sagt… alles fühlte sich richtig an… ich wollte noch mehr davon, mehr von ihm. Ich wollte ihn berühren, an mich drücken und beschützen… ihn beschützen… Die Zeichnungen. Ich mußte es ihm sagen. "Michael… ich…ich…sah deine Zeichnungen…" "Was?" "Ich sah sie… auch die letzten…" Er erbleichte. Sein Gesicht wurde weiß, und er drehte sich weg. Ich starrte auf seinen steifen Rücken, auf seine zitternden Hände. Ich stand auf. Ich ging zu ihm. Ich wollte ihm sagen, daß mein Eingriff in sein Privatleben mir leid tat, daß ich ihn bloß näher kennen wollte… als ob das eine Enschuldigung wäre… Er drehte sich zu mir noch bevor ich ihn erreichte, und mein Blut gefror unter seinem Blick. Er hatte Angst vor mir. Er sah runter auf meine Hand, wie auf etwas giftiges, und ich stolperte zurück. Es war alles meine Schuld. Er hatte mir genug vertraut, um mich in seiner Wohnung alleine zu lassen, und ich verriet ihn. Das Wissen, daß ich ihm wehgetan hatte, überwog all meine Herzschmerzen wegen Parker. Ich wollte ihn nicht verlassen, nicht jetzt, nicht so… aber ich wußte, er wollte und brauchte es. Ich nahm die Gitarre, die Tasche und ging. *~*~* Stu hatte endlich nachgegeben. Nach sechs Monaten langem Überreden, die Live Musik-Abende zu veranstalten, gab er endlich nach. Ich sang "Long Long Long" und widmete es Michael. Ich sang zwei andere Lieder, die ich unter seinem Einfluß komponiert hatte und wußte nicht einmal, ob er da war. Dafür war Parker anwesend. Vor zwei Wochen bin ich aus seiner Wohnung ausgezogen, und seitdem hatte er mich ständig bei Jamie angerufen. Er faßte mich am Arm, sobald ich von der Bühne kam, und ich schüttelte ihn ab. "Du hast mich nie erklären lassen…" "Ich will es nicht hören." "Maria, sie war nicht irgendeine Frau. Sie-" " Ist mir egal, wer sie-" "-ist meine Frau…" Ich spuckte beinah den Espresso über mich. "Wir trennten uns vor einem Jahr… Ich… ich verließ sie…" "Wegen einer jüngeren Frau…", wisperte ich. Wenigstens dabei hatte er nicht gelogen. Ich blickte auf seine Hand. "Du hast nie einen Ring getragen… Ich hätte das gemerkt." "Er ist abnehmbar…" "Wo… worauf willst du hinaus…" "Ich… Maria,… wir sind wieder zusammen… Leslie und ich…" Ich musterte ihn. Ich kam hinter der Theke hervor, nahm seine Hand und führte ihn aus dem Lokal. Ich wartete, bis die Tür hinter uns zufiel und drehte mich zu ihm. "Ich kann das drinnen nicht tun…" "Ma-" Ich schlug ihn ins Gesicht. Ich ließ ihn auf dem Gehsteig liegen, und ging zurück, um meine Schicht zu beenden. *~*~* Ich mag Alex. Er ließ mich stundenlang toben ohne ein einziges Mal "Ich habe dich gewarnt" zu sagen. Er wußte vermutlich, daß ich mich auch ohne seine Hilfe blöd genug fühlte. Dafür erzählte er mir, daß die Abschlußarbeiten von "Zeichnen IV" im Kunstmuseum ausgestellt wurden. Er sagte nichts über Michael, sagte nicht, ob er dort sein würde, ob er mich dort sehen wollte. Ich habe ihn seit der Nacht, als ich seine Wohnung verlassen hatte, nicht mehr gesehen. Ich fragte Liz nicht über ihn. Ich fragte niemanden über ihn. Ich schob Überstunden im ‘Luna' in der Hoffnung, er würde vorbeikommen. Seit ich bei Jamie und seinem Freund eingezogen bin, blieb ich nächtelang auf, schrieb Lieder und hoffte, daß ich eines Tages den Mut aufbringen würde, sie ihm vorzusingen. Ich vermißte ihn. In diesen zwei Wochen dachte ich kaum an Parker. All meine Gedanken handelten von Michael, nur Michael… klar, es war blöd, soviel darüber nachzudenken, jede Berührung, jeden Blick wieder und wieder ins Gedächtnis zu rufen – es war zu spät. Er zeigte nie irgendein Interesse an mir… es gab einzelne Momente zwischen uns, in denen ich dachte, wäre ich nicht mit jemanden zusammen, würde er … aber andererseits habe ich ihn mit so vielen Mädchen, so vielen anderen Modellen gesehen. Vielleicht war es ein Bestandteil seines Talents – sein Modell glauben zu lassen, sie sei wunderschön… sie sei die einzige Frau auf der ganzen Welt, die er jemals malen, berühren, lieben wollte… Ich entschied mich, trotzdem hinzugehen. Ich wollte es sehen. Ich wollte sehen, ob es die Chance gab, wenigstens Freunde zu sein. Das wäre nicht genug für mich, aber besser als dieses … Meiden. Und ich ging hin. Es war nicht schwer, seine Arbeiten zu finden. Vor ihnen standen Menschenmengen. Ich drängte mich nach vorne und… Mein Gott… Die Büste stand rechts auf dem weißen Podium und sie sah… sie sah aus als könnte sie atmen, als konnte sie sprechen. Ich lächelte. Kein großer Bildhauer, du… Arsch… Und das Ölbild… Ich vergaß zu atmen… Es… "Glückliches Mädchen…" Ich drehte mich um und sah Steffy, die das Bild anschaute. Sie sah mit einem matten Halblächeln auf mich. "Schau mal den Titel…", sagte sie, warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Bild und ging. Liebe von Michael Guerin. *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Ich fühlte ihre Präsenz noch bevor ich sie sah. Der Luft änderte sich, wurde elektrisch… wie sie. Sie bloß anzuschauen tat bereits weh. In den letzten zwei Wochen hatte ich mich in meine Wohnung verkrochen und versucht, Perfektion zu erreichen, versucht, alles was ich in ihr sah, alles was ich für sie fühlte in diesen Werken auszudrücken. Ich entschloß mich, mich nicht länger zu fürchten. Ich entschloß mich, mich nicht länger zu verstecken. Ich würde mich ihr anbieten, ohne Angst und ohne Scham, und falls sie sich abwendete… Gut, ich hoffte, das würde nicht geschehen. Ich wußte nicht einmal, ob sie kommen würde. Alex sagte mir, daß er ihr von der Ausstellung erzählt hatte, und sie zum Reingehen überreden wollte. Er glaubte, daß das nicht schwer zu erreichen sein würde, und das gab mir Hoffnung. Ich folgte ihr ins Zimmer, sah wie sie das Bild betrachtete. Ich sah ihr Gesicht nicht und fürchtete, sie würde das Bild hassen, sie würde mißverstehen, was ich damit sagen wollte, oder noch schlimmer – sie würde es richtig verstehen und es hassen, mich dafür hassen… Sie drehte sich um, ging durch die Menge und verließ das Zimmer. Ich blieb für einen Moment stehen, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Meine Füße entschieden sich für mich. Ich lief hinter ihr her. Ich folgte ihr durch das Museum, durch die Türen, auf den Gehsteig. Sie stand am Straßenrand und suchte ein Taxi. "Maria." Sie drehte sich langsam um. Ich hatte Angst, ihr in die Augen zu schauen, Angst davor, was ich darin zu sehen bekommen würde. "Wo…hm… wohin gehst du?" "Dich suchen…", flüsterte sie. Erst dann sah ich auf, und sie schaute mich an, sie schaute und sie sah mich, und die Angst verflüchtigte sich, weil ihre Augen leuchteten, sie waren warm, und sie sah mich so an, als würde sie mich lieben. "So… Du hast's gesehen...?" "Hab' ich…" murmelte sie und kam einen Schritt näher. "Wie hat's dir gefa-" Sie berührte mich, und ich verlor die Stimme. Sie legte die Hand auf mein Gesicht, ihr Daumen streifte meine Lippen… Ich faßte ihren Ellbogen und zog sie näher, näher… "Maria…" Sie küßte mich – süß und weich – und ich brannte. "Ich will bei dir sein, Michael…", atmete sie in meine Lippen. "Bist du sicher…", murmelte ich, in ihre Augen versunken, in das glühende Grün, das ich sofort auf der Leinwand erfassen wollte. "Gehen wir heim, und ich zeige dir, wie sicher ich mir bin…" *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* "Manchmal schaute ich über den Hof und dachte, wie wohl deine Stimme klingen würde…" "Manchmal blieb ich die ganze Nacht auf, während du maltest, und ich dachte, was dich wohl inspirierte, was dich bewegte…" "Du warst es – immer…" Ende